Deutsche Migrationspolitik, Wegsperren, wegschicken

 

Shreteh verbrachte 37 Tage in Haft Foto: Roger Hagmann

Deutsche MigrationspolitikWegsperren, wegschicken

Der Asylsuchende Syrer Ali Shreteh musste 37 Tage in Abschiebehaft verbringen. Über eine traumatisierende deutsche Praxis.

Von Joscha Frahm aus Suhl/büren

A li Shreteh hat geweint, geschrien und das Ticket für den Abschiebeflieger zerrissen. Gebracht hat all das nichts. Ende November wurde der 21-jährige Syrer nach Kroatien abgeschoben. Die letzten 37 Tage vor seiner Abschiebung verbrachte er in Haft. Eine Straftat hat Shreteh nicht begangen. Doch in Deutschland, so sagt er, habe man ihn wie einen Verbrecher behandelt. „Ich bin nicht vor Assads Gefängnissen geflohen, um in Deutschland eingesperrt zu werden.“

Mitte Dezember steht Shreteh in schwarzen Skinny-Jeans und dunkelgrüner Bomberjacke vor einer Erstaufnahmeeinrichtung in der Kleinstadt Suhl, mitten im Thüringer Wald. Für das eisige Wetter ist er eigentlich zu kalt angezogen. Seine dunklen Augen wirken müde, immer wieder lächelt er schüchtern. Er ist nach einer guten Woche in Kroatien nach Deutschland zurückgekehrt, um erneut Asyl zu beantragen.

Wenn er von seiner Zeit in Abschiebehaft erzählt, lacht er manchmal kurz auf, greift sich an die Stirn, oder schüttelt ungläubig den Kopf. Er fingert an seinem Reißverschluss herum, scheint nicht genau zu wissen, was er mit seinen Händen machen soll. Schließlich zündet er sich eine Zigarette an. Die Sammelunterkunft verlässt Shreteh dieser Tage nicht häufig. „Ich muss vorsichtig sein“, sagt er.

Alleine Bahn fahren, in der Stadt spazieren gehen oder ein Paket Mate-Tee in dem kleinen arabischen Laden im Zentrum von Suhl kaufen – all das sei nicht ungefährlich. Dass Shreteh erneut in Abschiebehaft kommt, ist nicht ausgeschlossen. „Ich kann diese Angst nicht ganz abschütteln“, sagt der junge Mann und blinzelt unruhig.

Ich bin nicht vor Assads Gefängnissen geflohen, um in Deutschland eingesperrt zu werden

Ali Shreteh, 21

Die Geschichte von Shreteh ist nicht außergewöhnlich. Jährlich inhaftiert der deutsche Staat mehrere tausend Asylsuchende, um sie leichter abschieben zu können. Ausländerbehörden können Abschiebehaft und Ausreisegewahrsam beantragen. Dafür müssen sie nachweisen, dass sich die betroffene Person einer geplanten Abschiebung entziehen will und eine Abschiebung praktisch und rechtlich machbar ist. Ein Amtsgericht entscheidet dann, ob die Person in Haft kommt.

Die rechtlichen Hürden für die Anordnung von Ausreisegewahrsam sind niedriger als die für Abschiebehaft, auch die maximale Haftdauer unterscheidet sich. Bisher galt Abschiebehaft als „Ultima Ratio“ – also als letztes Mittel –, wie das Bundesinnenministerium schreibt. Steht eine mildere Maßnahme zur Verfügung, um die Abschiebung zu vollziehen, darf keine Haft angeordnet werden.

Die Haftzahlen steigen seit Jahren. Während 2015 bundesweit 1.850 Menschen in Abschiebehaft und Ausreisegewahrsam saßen, waren es vier Jahre später 5.208, wie aus einer großen Anfrage der Linken im Bundestag 2021 hervorging. In den Folgejahren waren die Zahlen pandemiebedingt gesunken. Anfragen der taz an die Innen- und Justizministerien der Länder zeigen: 2024 wurden in Deutschland 6.498 Menschen im Rahmen von Abschiebehaft oder Ausreisegewahrsam inhaftiert, deutlich mehr also als vor der Pandemie. Gleichzeitig war die Gesamtzahl der Abschiebungen niedriger als 2019.

Blick auf die Erstaufnahme-Einrichtung in Suhl, in der Ali Shreteh untergebracht ist Foto: Roger Hagmann

In 13 dafür vorgesehenen Einrichtungen stehen bundesweit rund 800 Abschiebehaftplätze zur Verfügung. Mehrere hundert weitere sollen in den kommenden Monaten entstehen, unter anderem in Baden-Württemberg, Bayern, Nordrhein-Westfalen, Sachsen-Anhalt und Thüringen. Auch die durchschnittliche Haftzeit steigt. 2019 saßen Menschen im Schnitt 19,1 Tage in Abschiebehaft, 2024 waren es durchschnittlich 24,4 Tage.

Dafür sind laut Bundesländern unter anderem die Rechtsverschärfungen der vergangenen Monate verantwortlich. Im Februar 2024 hatte die Ampelregierung das sogenannte Rückführungsverbesserungsgesetz beschlossen – eine von ­zahlreichen Aslyrechtsverschärfungen in den letzten dreieinhalb Jahren. Menschen können seitdem statt bisher 10 bis zu 28 Tage im Aus­reisegewahrsam festgehalten werden. Im Rahmen von Abschiebehaft können Menschen nun 6 Monate inhaftiert werden, in Ausnahmefällen sogar bis zu 18 – vorher waren es maximal 3 Monate gewesen.

Auch die möglichen Haftgründe wurden erweitert. Nun kann zum Beispiel schon eine un­erlaubte Einreise ins Bundesgebiet ausreichen, um ein halbes Jahr in Haft zu rechtfertigen. Ob die Rechtsverschärfungen ihren Zweck einer konsequenteren Abschiebepraxis erfüllen, ist fraglich. Die Folgen für die betroffenen Menschen wiegen dagegen schwer. Unter einer CDU-geführten Bundesregierung könnte sich die Lage noch deutlich zuspitzen.

In ihrem Fünfpunkteplan, den die Union vergangenen Mittwoch im Notfall auch mit Stimmen der AfD durch den Bundestag bringen wollte, fordert sie, dass ausreisepflichtige Personen künftig „unmittelbar in Haft genommen werden“ sollen. Container und alte Kasernen sollen genutzt werden, um mehr Haftplätze zu schaffen. Im Wahlprogramm fordert die Union zudem eine Art Beugehaft: Straf­tä­te­r:in­nen sollen nach Absitzen der Strafhaft für unbestimmte Dauer in Abschiebehaft genommen werden dürfen. Bis sie freiwillig ausreisen.

Es ist still im größten Abschiebegefängnis Deutschlands. Mitte Januar ist die Sonne noch zu schwach, um den Schnee im Innenhof zum Schmelzen zu bringen. Dicke Betonmauern und Stacheldrahtzaun umgeben das Gelände der ehemaligen Nato-Kaserne, die mitten in einem Waldstück bei Büren liegt, einer Stadt bei Paderborn. Kameras überwachen den Bereich rund um die Mauer, die an der höchsten Stelle 12 Meter in den blauen Himmel ragt. Die Fenster der roten Backsteingebäude, in denen 124 Männer auf ihre Abschiebung warten, sind von außen vergittert.

„Die Menschen genießen bei uns in Haft eigentlich ein normales Leben, nur eben minus die Freiheit“, sagt Johanna Korter, die die Einrichtung seit Mitte 2024 leitet, während sie durch den Schnee stapft. Fotos vom Stacheldrahtzaun wolle man lieber nicht in der Zeitung sehen, so etwas könne leicht aus dem Kontext gerissen werden. Hier in Büren sei man stolz auf das vielfältige Freizeitangebot, das man den Inhaftierten biete. Einen Fitnessraum, eine Holzwerkstatt, sogar eine kleine Bibliothek gibt es.

In die dunklen Stahltüren der Zellen sind kleine Luken eingebaut. „Um zu gucken, ob der Untergebrachte noch lebt“, erklärt ein uniformierter Beamte, der über das Gelände führt. In jeder Zelle steht ein einfaches Bett, ein kleiner Tisch, außerdem Kühlschrank, Wasserkocher und ein Fernseher. Der Boden ist grau gefliest, in jeder Zelle gibt es eine Toilette. In den hellblau gestrichenen Gängen hängen große Digitaluhren von der Decke. An den roten Ziffern können die Gefangenen ablesen, wie viel Zeit bleibt, bevor sie nach Kroatien, Bulgarien, Afghanistan oder in den Iran abgeschoben werden. Mit ihnen zu sprechen, sei aus organisatorischen Gründen nicht möglich, hatte die Pressestelle im Vorfeld mitgeteilt.

 

Aussicht auf Abschiebung: Blick aus einer Zelle der Abschiebehaftanstalt Büren Foto: Socrates Tassos/imago

Wer in Büren ankommt, muss zuerst in die sogenannte Kammer. Ein weißer Raum, in dessen Mitte ein blauer Stuhl steht. Die Inhaftierten müssen sich ausziehen, bevor ein Uniformierter sie durchsucht. Bargeld und Smartphones müssen abgegeben werden. Sie bekommen Kochgeschirr, ein Tastenhandy mit SIM-Karte, Kleidung und Turnschuhe ausgehändigt. Besonders wichtig sei, dass keine spitzen Gegenstände mit aufs Gelände genommen würden, erklärt ein junger Uniformierter, der einen Schlüsselbund und Pfefferspray am Gürtel trägt. Immer wieder war es in deutschen Abschiebehafteinrichtungen zu Suiziden gekommen, so auch 2018 in Büren. Damals hatte sich ein 41-jähriger Georgier in seiner Zelle erhängt.

Asyl- und Auf­ent­halts­rechts­ex­per­t:in­nen schlagen Alarm. Die Zahl der unrechtmäßig Inhaftierten sei extrem hoch, sagt etwa Rechtsanwalt Peter Fahlbusch, der seit 2001 über 2.500 Betroffene von Abschiebehaft vor Gericht vertreten hat. „In rund der Hälfte der von mir geführten Verfahren haben Gerichte später entschieden, dass meine Man­dan­t:in­nen zumindest teilweise zu Unrecht in Haft saßen“, sagt Fahlbusch. Eine Untersuchung der Universität Hamburg kommt zu einem ähnlichen Ergebnis. Demnach stellten sich 60 Prozent der Abschiebehaftbeschlüsse, die zwischen 2015 und 2022 vor dem Bundesgerichtshof landeten, als rechtswidrig heraus.

In vielen Fällen werde nicht sorgfältig genug geprüft, ob ein Haftgrund vorliege, sagt Fahlbusch. „Die Ausländerbehörde behauptet dann zum Beispiel, sie habe die Betroffenen bei einem Abschiebungsversuch nicht vorgefunden oder es bestehe Fluchtgefahr, obwohl das nicht ausreichend belegt werden kann.“ Manchmal würden auch Menschen inhaftiert, bei denen gar nicht belegt sei, dass sie ausreisepflichtig sind. Auch die Haftdauer sei häufig nicht gerechtfertigt.

Besonders problematisch sei, dass in den meisten Fällen Monate oder Jahre vergingen, bis die Rechtswidrigkeit der Haft festgestellt werde. In der Zwischenzeit sei die Mehrzahl der inhaftierten Menschen bereits abgeschoben worden.

Peter Fahlbusch sagt, zwischen Ausländerbehörden und Amtsgerichten habe sich zum Teil ein bedenkenswerter Mechanismus etabliert. „Wenn die Ausländerbehörde einen Haftantrag stellt, sagen die Gerichte oft: Das wird schon so passen.“ Dafür gebe es unterschiedliche Gründe. Hin und wieder hätten Amts­rich­te­r:in­nen nicht ausreichend Erfahrung mit aufenthaltsrechtlichen Fragen. Außerdem bestehe ein nicht zu unterschätzender politischer Druck, mehr Abschiebungen durchzuführen. Es mache gelegentlich den Eindruck, dass dieser Druck auch auf die Haftentscheidungen der Gerichte durchschlage.

Auf taz-Anfrage dementiert ein Großteil der Justizministerien der Länder, dass Fehlentscheidungen in dem Ausmaß, von dem Ex­per­t:in­nen berichten, getroffen würden. Die Ausländerbehörden und Amtsgerichte würden stets sorgfältig prüfen, ob die gesetzlichen Voraussetzungen vorliegen würden, heißt es. Systematisch erhoben wird die Zahl der zu Unrecht inhaftierten Personen in den meisten Bundesländern nicht. Auch konkrete Maßnahmen gegen unrechtmäßige Inhaftierungen von abgelehnten Asyl­be­wer­be­r:in­nen können auf Anfrage nicht genannt werden. Peter Fahlbusch sagt: „Abschiebehaft und die dazugehörigen Verfahren sind eine ziemliche Blackbox.“ Es sei unverständlich, dass keine Zahlen zu unrechtmäßigen Inhaftierungen erhoben würden.

Manchmal würden laut Ex­per­t:in­nen auch Menschen inhaftiert, bei denen gar nicht belegt sei, dass sie ausreisepflichtig sind

In den Justizministerien der Länder sieht man das offenbar anders. Bei der Justizministerkonferenz im Dezember stimmte eine Mehrheit dafür, dass Betroffenen von Abschiebehaftverfahren in Zukunft kein Pflichtanwalt mehr zur Verfügung gestellt werden solle. Die verpflichtende Beiordnung eines Rechtsbeistandes für Betroffene von Abschiebehaftverfahren war erst im Rahmen des „Rückführungsverbesserungsgesetzes“ im Februar eingeführt worden – auf Drängen der Grünen.

Peter Fahlbusch sagt: „Dass die Justizministerkonferenz den Paragrafen wieder abschaffen möchte, ist skandalös.“ Zwar sei die bisherige Regelung nicht optimal, denn in der Praxis würden häufig An­wäl­t:in­nen bestellt, die sich nicht vertieft mit dem Aufenthaltsrecht auskennen würden. Aber immerhin sei die Beiordnung von Pflicht­an­wäl­t:in­nen ein erster Schritt, um die Rechte der Betroffenen zu wahren.

In dem Beschluss der Justizministerkonferenz heißt es, die Verfahren würden durch die Bestellung von Pflicht­an­wäl­t:in­nen „zeitintensiver sowie komplexer“. Rückführungen würden dadurch erschwert. Dass der Paragraf zu einer Mehrbelastung der Gerichte geführt habe, möge stimmen, sagt Peter Fahlbusch. „Nur: Es war schon immer etwas mühseliger, rechtsstaatlich zu verfahren.“

Die Bundesländer argumentieren auf Anfrage, in vielen Fällen würden Abschiebungen scheitern, weil sich die Betroffenen der Maßnahme entziehen würden. Abschiebehaft wirke dem entgegen.

Nach Meinung der Anstaltsleitung ganz anders als ein Knast: die Abschiebehaftanstalt Büren Foto: Socrates Tassos/imago

Der Preis, den die Länder dafür zahlen, ist hoch, auch finanziell. Die Innenministerkonferenz schätzte im Juni 2024, dass der Betrieb einer Haftanstalt mit 100 bis 200 Plätzen mindestens 5 bis 15 Millionen Euro im Jahr erfordere. Der Neubau einer Einrichtung dieser Größe koste, wie Erfahrungen aus Bayern zeigen würden, knapp 58 Millionen Euro. Dazu kommen Entschädigungssummen, die die Länder im Falle einer unrechtmäßigen Inhaftierung zahlen müssen.

Laut Peter Fahlbusch beläuft sich die Entschädigung im Schnitt auf 75 Euro pro Tag, den eine Person zu Unrecht in Haft saß. Geht man davon aus, dass davon jährlich tausende Personen betroffen sind, die meist wochenlang in Haft sitzen, kämen mehrere Millionen Euro dazu. Peter Fahlbusch sagt, es sei wichtig, Haftverfahren weiterzuführen, auch wenn die Menschen schon abgeschoben oder anderweitig aus Haft entlassen wurden. „Wenn der Staat am Ende Entschädigungszahlungen leisten muss, wird in Zukunft vielleicht genauer hingeschaut.“

Im Suhler Stadtzentrum duftet es nach Glühwein und Schmalzgebäck. Während Ali Shreteh über den Weihnachtsmarkt schlendert, wirkt er entspannt. „Ich will, dass Deutschland mein Zuhause wird“, sagt er. Er sei erleichtert, wieder hier zu sein, habe aber gleichzeitig Angst, wie es weitergehe. „Was ist schlimmer, ein kroatischer Polizeihund, der sich in deinem Arm festbeißt, oder ein paar Wochen im deutschen Gefängnis?“, fragt er und weiß selbst keine Antwort. Immer wieder berichten Asylsuchende von Polizeigewalt und Pushbacks durch kroatische Behörden. Auch Shreteh hat solche Erfahrungen gemacht.

„Deutschland hat für mich zwei Gesichter“, sagt Shreteh. Da seien Hoffnung und der Glaube an eine bessere Zukunft. Auf der anderen Seite stünden Zweifel, Angst und Enttäuschung. Die Enttäuschung, von der Shreteh erzählt, beginnt zwei Monate zuvor. Als Shreteh Mitte Oktober von der Ausländerbehörde des Unstrut-Hainich-­Kreises in Thüringen vorgeladen wird, um seine Duldung zu verlängern, warten dort Polizeibeamte auf ihn. „Sie haben mir Handschellen an Händen und Füßen angelegt und mich zur Polizeistation gebracht“, erzählt er. Schon am nächsten Tag wird er das erste Mal nach Kroatien abgeschoben. „Ich war von meiner Festnahme komplett ­überrumpelt“, sagt Shreteh.

 

Die Zukunft der offenen Gesellschaft steht zur Wahl. Kommt nun eine Rückschrittskoalition, für die Migration wirklich die Mutter aller Probleme ist? Wird Gleichberechtigung wieder zu Gedöns? Nicht in der taz: Wir berichten über den Kampf der Zivilgesellschaft für gleiche Rechte. Alle Texte zum Thema finden Sie hier.

Rund eine Woche später kehrt der junge Mann nach Deutschland zurück und wird erneut von Polizeibeamten aufgegriffen. Diesmal an einem Bahnhof in Nordthüringen. Nach einer Nacht in der Zelle kommt er vor Gericht. Erst hier erfährt Shreteh, dass er eingesperrt werden soll. In dem Haftantrag der Ausländerbehörde, der der taz ­vorliegt, heißt es, Shreteh habe in einer Befragung gesagt, dass er nicht nach Kroatien zurückkehren wolle, obwohl er ausreisepflichtig sei. Außerdem sei Shreteh illegal in das Bundesgebiet eingereist.

Gerade einmal eine Stunde und 18 Minuten dauert die Anhörung vor dem Amtsgericht Heilbad Heiligenstadt. „Der Betroffene teilt mit, dass er jetzt in einen Hungerstreik treten wird und er sterben möchte“, steht im Sitzungsprotokoll. Auch, dass er nun freiwillig nach Kroatien ausreisen wolle, beteuert Shreteh. Die beiden letzten Sätze, die der 21-jährige vor Gericht sagt, lauten: „Ich möchte mich umbringen im Knast. Ich kann das nicht aushalten.“

Das Gericht ent­scheidet, dass Shreteh bis Ende November in Haft bleiben muss. Weil Thüringen bisher über keine eigene Einrichtung verfügt, kommt Shreteh nach Ingelheim, ­einer Kleinstadt bei Mainz. Auf taz-­Anfrage schreibt das Amtsgericht Heilbad Heiligenstadt, dass Abschiebehaftverfahren zwar relativ selten vorkämen, grundsätzlich aber ausreichend ­Ressourcen zur Verfügung stünden, um Haft­anträge sorgfältig zu prüfen. Ob sich Shretehs Inhaftierung als rechtswidrig herausstellen könnte, ist unklar. Gegen den Haftbeschluss hat Peter Fahlbusch, der den Fall übernommen hat, Beschwerde eingelegt. Eine Entscheidung steht noch aus.

Als Shreteh in der Abschiebehafteinrichtung ankommt, fallen ihm zuerst die grünen Gitterstäbe und die sterilen Flure auf. „Alles hat mich an die Gefängnisserien erinnert, die ich früher gerne geschaut habe.“ Diese Fernsehserien lösten mittlerweile kalte Schauer auf seinem Nacken aus, erzählt er.

Die ersten acht Tage verbringt Shreteh in ­Einzelhaft. „Als die Zellentür zum ersten Mal geschlossen wurde, wusste ich: jetzt bin ich alleine mit meinen Gedanken.“ Sein Herz sei gerast, er habe sich auf den kalten Boden gelegt und ­gewartet, bis er besser atmen konnte. „Die Uniformierten haben mir gesagt, die ersten Tage sind ein Test.“ Auf Anfrage schreibt die Einrichtung in Ingelheim: „Neuankömmlinge werden zu Beginn ihres Aufenthaltes im geschlossenen Flur ­untergebracht.“ So könne man die Bedürfnisse der untergebrachten Personen besser beurteilen.

Die Bedingungen in Abschiebehafteinrichtungen sind umstritten. Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs aus 2014 und 2022 schreiben vor, dass diese nicht wie Strafhaft gestaltet werden darf. Die Innenministerien der Bundesländer betonen auf Anfrage, mehr Hofgang, Freizeitangebote und eine engmaschige psychologische Unterstützung würden Abschiebehaft im Gegensatz zur Strafhaft auszeichnen. Von der Abschiebehafteinrichtung in Ingelheim heißt es, Gitter, Mauern und Zäune seien mangels geeigneter Alternativen hinzunehmen.

In Büren gibt man sich Mühe, die Unterschiede zur Strafhaft betonen. Die bunten Kugeln im Billardzimmer, Crosstrainer und Hantelbänke im Fitnessraum und der verschneite Fußballplatz sollen die Inhaftierten wohl auf andere Gedanken bringen. Nach einer Woche Einzelhaft können sie sich innerhalb der Betonmauern tagsüber frei bewegen, mit ihren Tasten-Handys telefonieren und rauchen.

Bei ihrer Ankunft wird den Inhaftierten Tabak angeboten. „Um erst mal ein bisschen runterzukommen“, erklärt ein Uniformierter, während er die Schublade mit den roten Tabakpäckchen, Filtern und Blättchen präsentiert. Für zwei bis drei Euro Stundenlohn dürfen die Inhaftierten unter Anleitung Holzarbeiten herstellen, die später verkauft werden. Ein Psychologe, drei Sozialarbeiter, zwei Seelsorger und ein Imam sollen sich um den Rest kümmern.

Ein Seelsorger, der in einer anderen großen deutschen Abschiebehafteinrichtung tätig ist, berichtet der taz am Telefon: „Die normalen Verdrängungsmechanismen funktionieren in Abschiebehaft nicht.“ Mit den Gesprächs- und Freizeitangeboten könne man zwar ein bisschen gegensteuern. „Diese ganz tiefsitzende Verzweiflung der Menschen, kann man aber nicht auflösen.“

„Im Gefängnis hört man nur traurige Geschichten. Die Träume der Menschen zerbrechen dort.“, erzählt Shreteh. Eine immer größere Leere habe sich in ihm ausgebreitet. „Ich habe Syrien so vermisst wie noch nie“, sagt Shreteh. Seine Stimme klingt heiser, wenn er von seiner Familie spricht, die noch in seiner Heimatstadt Homs lebe. Auch für sie sei er nach Deutschland gekommen. „Die Zelle hat sich plötzlich sehr klein angefühlt.“ Zurück nach Syrien zu gehen sei trotzdem nie eine Option gewesen, sagt Shreteh. Selbst dann nicht, als er vom Sturz des Assad-Regimes erfahren habe.

Er zieht sein Hosenbein hoch und zeigt auf die lange weiße Narbe, die sein Schienbein zeichnet. „Als ich 10 Jahre alt war, hat ein Bombensplitter mich fast mein Bein gekostet.“ Wenige Jahre später sei seine Mutter im Bürgerkrieg gestorben. „Dass Syrien jetzt sicher ist, ist Quatsch“, sagt Shreteh und schluckt. Die politische Debatte mache ihm Angst, sagt Shreteh. Abschiebungen nach Syrien und Afghanistan sind ebenfalls Teil des Fünfpunkteplans der Union.

Als sich seine Zelle Ende November nachts öffnet, stehen dort, laut Aussage Shretehs, fünf Polizeibeamte. Sie bringen ihn nach Hamburg zum Flughafen, von dort aus geht der Charterflug nach Kroatien. „Ich habe mich wie ein Schwerverbrecher gefühlt“, sagt Shreteh und blickt nachdenklich auf seine Hände.

Er zögert, wenn man ihn fragt, ob er das deutsche Rechtssystem als unfair wahrnehme. „Ich habe das Gefühl, man kann Glück oder Pech haben“, sagt Shreteh. „Und ich hatte eben Pech.“ Schulterzucken. „Die deutschen Behörden haben versucht, mich zu brechen“, sagt Shreteh. „Aber ich habe es geschafft, da durchzukommen.“

Wohl auch, weil Shreteh Menschen um sich hat, die ihn bei seiner Suche nach einem sicheren Ort zum Leben unterstützen. Ak­ti­vis­t:in­nen und Freunde setzen sich für Shreteh ein, um ihn in Zukunft vor den hohen Betonmauern, den kroatischen Polizeihunden und dem Alleinsein zu schützen.

Rechte Gewalt gegen Geflüchtete

Immer mehr Angriffe auf Unterkünfte

Geflüchtetenunterkünfte werden immer wieder Ziel von politische motivierten Angriffen. Im vergangenen Jahr gab es 218 solcher Taten.

Die Polizei meldet für 2024 einen Anstieg politisch motivierter Angriffe auf Geflüchtetenunterkünfte Foto: Karl-Josef Hildenbrand/dpa

Hannover/Berlin epd | Die Zahl der politisch motivierten Straftaten gegen Geflüchtetenunterkünfte hat nach Angaben der Bundesregierung im Jahr 2024 zugenommen. Die Polizei registrierte im vergangenen Jahr 218 solcher Taten, bei denen Unterkünfte Angriffsziel oder Tatort waren. Im Jahr 2023 waren es noch 167 Straftaten, berichtete das RedaktionsNetzwerk Deutschland (Sonntag) unter Berufung auf eine Antwort des Bundesinnenministeriums auf eine Kleine Anfrage der Linken-Gruppe im Bundestag.

Bei 28 der Taten im vergangenen Jahr handelte es sich um Gewaltdelikte. Dadurch wurden laut der Auflistung des Ministeriums 14 Personen verletzt, darunter ein Kind.

Die Zahl der politisch motivierten Straftaten gegen Geflüchtete außerhalb von Unterkünften ist den Angaben zufolge nach aktuellem Stand etwas gesunken. Die Behörden registrierten bis zum Jahresende 1.905 Straftaten, davon 237 Gewalttaten. Im Jahr 2023 waren es 2.450. Es sei jedoch damit zu rechnen, dass diese Zahl für das Jahr 2024 noch ansteigt, weil noch zahlreiche Nachmeldungen der Polizeien aus dem vierten Quartal erfolgen dürften.

„Die Zahl der Beleidigungen, Bedrohungen und Angriffe gegen Geflüchtete ist seit Jahren besorgniserregend hoch“, sagte die fluchtpolitische Sprecherin der Linken-Gruppe im Bundestag, Clara Bünger. Es sei empörend, dass dieser Zustand von großen Teilen der Politik und Öffentlichkeit achselzuckend hingenommen werde. Immerhin gehe es bei den Betroffenen um Menschen, die in Deutschland Schutz suchten. „Doch was sie finden, sind rassistische Anfeindungen und Gewalt. Daran dürfen wir uns niemals gewöhnen“, sagte Bünger.

Denkmal für die ermordeten Sinti + Roma Europas

Liebe Leute,

unsere gemeinsame Kundgebung findet am 28. September ab 18:00 Uhr am Potsdamer Platz Berlin statt!

Wir rufen Euch alle auf zum gemeinsamen Protest für den vollständigen Erhalt unseres Denkmals für die im Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma Europas! Kommt alle nach Berlin!

Unser Denkmal ist durch den geplanten Bau einer S-Bahnlinie massiv bedroht.

Dieses Denkmal hat für uns eine große Bedeutung: Es erinnert an den Völkermord an 1,5 Millionen Roma und Sinti in ganz Europa. Für viele von uns Nachkommen der Verfolgten ist es ein Ort der Trauer um unsere Toten ohne Gräber. Es ist ein Ort der Anerkennung dieses Verbrechens und hat eine zentrale Funktion in der Erinnerungskultur, besonders angesichts des wieder erstarkenden Rassismus in Deutschland.

Die politisch Verantwortlichen auf Berliner und Bundesebene müssen ihrer erinnerungspolitischen Zusage und Verpflichtung nachkommen. Es ist nicht hinnehmbar, dass nur zehn Jahre nach seiner Errichtung dieses lang erkämpfte Denkmal nun geschädigt werden soll.

Besonders erschütternd ist die Tatsache, dass ausgerechnet die Deutsche Bahn den Auftrag erhält, unser Denkmal zu schädigen. Dies ist umso empörender, als dass die Deutsche Reichsbahn, Vorgängerorganisation der heutigen Deutschen Bahn, während der NS-Zeit an der massenhaften Deportation unserer Menschen Blutgeld verdient hat.

Wir rufen Euch auf, euch uns anzuschließen! Steht an unserer Seite: Schützen wir das Mahnmal!

Roma Antidiscrimination Network

Presseerklärung ROM e.V.

Köln, 29.07.2024      ROM e.V.

Presseerklärung zum Internationalen Tag des Gedenkens an den Genozid an Rom:nja und Sinti:zze am 02. August

Der Rom e.V. erinnert anlässlich des Gedenktages am 02. August an die Ermordung von 4.300 Rom:nja und Sinti:zze im deutschen Vernichtungslager Ausschwitz-Birkenau vor 80 Jahren. In Erinnerung an die ca. 500.000 Angehörigen der Minderheit, die im NS-besetzten Europa getötet wurden, erklärte das Europäische Parlament (erst) 2015 dieses Datum zum „Europäischen Holocaust-Gedenktag für Sinti und Roma“.

Zum Anlass des Gedenkens veranstaltet der Rom e.V. am 02.08.2024 um 14 Uhr eine Tour durch die Kölner Innenstadt. Im Rahmen der Tour „SpuRom:nja“ werden Orte aufgesucht, die mit den Geschichten von Rom:nja und Sinti:ze verknüpft sind. Interessierte können sich über den untenstehenden Kontakt anmelden. Anmeldung via Link:  https://docs.google.com/forms/

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Zur Geschichte: Der Lagerabschnitt B II e im Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau wurde im Dezember 1942 errichtet. Die erste Massenvernichtung fand im März 1943 statt. Als das Lager aufgelöst und die verbleibenden 6.000 Rom:nja und Sinti:zze in den Gaskammern ermordet werden sollten, leisteten die Häftlinge am 16. Mai 1944 Widerstand. Die SS brach die Auflösung daraufhin vorerst ab. Drei Monate später, am 2. August 1944, wurden die letzten Überlebenden in den Gaskammern umgebracht und das Lager geschlossen.

„Der Völkermord an den Sinti und Roma Europas begann nicht erst im Dezember 1942 oder Frühjahr 1943. Der Völkermord begann vor der eigenen Haustür, in der eigenen Nachbarschaft, mitten in Deutschland, in Baden und Württemberg, Hessen und der Pfalz, im Rheinland und in Hamburg, im Mai 1940. Auf Wunsch der Wehrmacht wurden die ersten familienweisen Massendeportationen eingeleitet. Polizei und Gemeindeverwaltungen waren die Hauptakteure.
[…] Diese erste Deportationswelle war die „Generalprobe zum Völkermord“ (Wolfgang Benz). Im Grunde war es seine erste Stufe. Es war der Beginn einer Eskalation von der Ausgrenzung bis hin zur systematischen Auslöschung. Die Schwelle zum Massenmord wurde überschritten. 80 Prozent der im Mai 1940 ins „Generalgouvernement“, ins vom nationalsozialistischen Deutschland besetzte Polen verschleppten knapp 3.000 Sinti und Roma überlebten nicht.“
(Quelle: https://www.sinti-roma.com/beitraege/vor-80-jahren-der-auschwitz-erlass-vom-16-dezember-1942)/

Auch in Köln wurden am 21.05.1940 eintausend Sinti:zze und Rom:nja aus dem Rheinland über den Deutzer Bahnhof nach Polen deportiert. Diese erste Massendeportation ist musterhaft für alle nachfolgenden Deportationen aus Köln. Ab 1943 werden Rom:nja und Sinti:zze auch in das KZ Auschwitz-Birkenau verschleppt. Nur wenige überleben. Der weiße Schriftzug „MAI 1940 – 1000 ROMA UND SINTI“, den der Künstler Gunter Demnig mit Unterstützung des Rom e.V. im Jahr 1990 entlang dem Leidensweg der Deportierten von Bickendorf bis zur Laderampe in Deutz mit einer selbst gefertigten Druckwalze zieht, ist inzwischen verblasst. Doch an 23 Orten in Köln ist die Spur in haltbares Messing gegossen, sodass sie noch heute an die Deportation der Rom:nja und Sinti:zze erinnert.

Pressekontakt: Marion Krämer,
marion.kramer@romev.de; Tel. 0221-2786075

Sommerpressekonferenz: Scholz hat die Symbolik umgekehrt

Taz 25. 7. 2024, 10:39 Uhr       Kommentar von  Cem-Odos Güler

Sommerpressekonferenz: Scholz hat die Symbolik umgekehrt

Wo Merkel einst ihren berühmten Satz sagte, kündigt der Kanzler nun Abschiebungen nach Syrien an – und hat damit den Anschluss zur Mitte verloren.

Foto: Fließende Übergänge zwischen Arroganz und Munterkeit: Bundeskanzler Olaf Scholz bei der Sommerpressekonfernz

Olaf Scholz baut seinen Ruf als Abschiebekanzler aus, dafür ist ihm nicht einmal die Symbolik der Berliner Sommerpressekonferenz zu schade: Neun Jahre ist es her, dass hier mit Angela Merkel eine Bundeskanzlerin von der CDU zur Aufnahme von Geflüchteten aus Syrien und Afghanistan die Losung ausgab: „Wir schaffen das.“ Scholz, ihr Nachfolger von der SPD, nutzte dieselbe Bühne am Mittwoch für die Ankündigung, dass Deutschland bald wieder nach Syrien und Afghanistan abschieben werde.

Beim Thema Migration, aber auch beim Krieg in Gaza zeigt sich, dass der Kanzler wirklich so unfähig zur Empathie ist, wie es ihm nachgesagt wird. Damit wird er bei der kommenden Wahl nicht bestehen – auch wenn er es selbst nicht wahrhaben will und schon mal ankündigte, wieder kandidieren zu wollen.

Der Bundeskanzler verbuchte es als seinen Erfolg, dass in diesem Jahr die Abschiebezahlen um 30 Prozent gestiegen sind. Scholz wirkte bei der Pressekonferenz sichtlich froh über diese Leistung. Rhetorisch ist er damit nah bei Horst Seehofer, der sich 2018 als Innenminister von der CSU über 69 Abschiebungen nach Kabul an seinem 69. Geburtstag gefreut hatte, während zeitgleich die Taliban das Land zurückeroberten. Es ist kaum vorstellbar, dass innerhalb der SPD diese Analogien nicht auch gesehen werden. Nur was folgt daraus?

Vermutlich nichts. Fast wirkt es, als seien die progressiven Kräfte in Deutschland entweder zu ausgebrannt für jegliche Debatte oder einfach faul geworden. Dass Scholz diese intellektuelle Langeweile gut verkörpert, ist nichts Neues. Tragisch ist aber seine gleichzeitige Selbstverliebtheit, die ihn tatsächlich blind zu machen scheint. Wer keine humanistischen Positionen vertreten will, sollte wissen, dass sich in Deutschland auch mit humanistischer Rhetorik Wahlen gewinnen lassen – Merkel wusste das und setzte es geschickt ein.

Ein außenpolitischer Hammer

Mit ihrem Auftritt bei der Sommerpressekonferenz 2015 wurde sie zu einem Symbol einer neuen deutschen Integrität und Menschlichkeit und konnte damit auch in der progressiven Mitte Wahlen gewinnen. Scholz hat diese Gruppe verloren.

Mit seinen Argumenten ließ der Kanzler mal wieder tief blicken. Beim Thema Migration gab er neben der Abschiebeoffensive die Interpretation zum Besten, Immigration müsse sich für Deutschland lohnen, denn es könne nicht sein, dass sich „hier jemand einen bequemen Lenz macht“.

Deutschland brauche Leute, „die hier gut reinpassen, die fleißig sind“. Wer genau hinhört, kann hier die dog whistle des Kanzlers vernehmen, mit der er für Kenner darlegt, dass „Abschiebungen“ und „faule Ausländer“ kein unzusammenhängendes Begriffspaar mehr sein muss.

Außenpolitisch hatte Scholz etwas zu präsentieren, das sich noch als echter außenpolitischer Hammer entpuppen könnte. Gemeint ist hier nicht sein Festhalten an Waffenlieferungen nach Israel, das an sich schon einer moralischen Bankrotterklärung gleich kommt.

Moralische Bankrotterklärung

Gemeint ist die „Vorbereitung“ von Abschiebungen von Syrer*innen, die eine Zusammenarbeit mit der syrischen Administration und dem Schlächter Baschar al-Assad voraussetzen würde. Glauben der Kanzler und seine Partei ernsthaft, mit solchen moralischen Verrenkungen aus dem Umfrageloch zu kriechen – und wenn ja, wäre es das wert?

Der moralische Kompass des Kanzlers braucht eine Neujustierung. Das zeigte sich auch bei Scholz Antworten zum Krieg in Gaza und dem Gutachten des Internationalen Gerichtshofs, das Israels Siedlungspolitik als völkerrechtswidrig bewertet hatte. Scholz spulte den deutschen Standard-Sprech ab, Deutschland stehe weiter hinter einer Zwei-Staaten-Lösung und führe Gespräche mit beiden Seiten.

Dass es für die verbliebenen progressiven Kräfte auf jenen „beiden Seiten“ in Israel und Palästina ein Schlag in die Magengrube ist, dass Deutschland weiterhin Waffen an die israelischen Streitkräfte liefern würde, ist dem Kanzler sichtlich egal.

 

taz  23. 7. 2024, 19:47 Uhr   Frederik Eikmanns

Syrische Geflüchtete: Richter rütteln am Schutz

Ein Gericht in Münster sieht keinen Grund mehr, Syrer*innen subsidiären Schutz zu gewähren. Eine Studie zeigt indes, wie gut sie sich integrieren.

Als Geflüchtete aus Syrien 2015 noch willkommen waren im Münsterland Foto: Funke Foto Services/imago

BERLIN taz | Ein Urteil des Oberverwaltungsgerichtes Münster stellt den subsidiären Schutz für Geflüchtete aus Syrien infrage. Die Lage dort sei nicht mehr so gefährlich, dass sie diesen Schutzstatus rechtfertige, so das Gericht in einer Mitteilung von Montag. Menschenrechtsorganisationen kritisieren das scharf.

Verhandelt wurde der Fall eines Mannes, der 2014 nach Deutschland gekommen war und dagegen geklagt hatte, dass er weder als Flüchtling anerkannt wurde noch subsidiären Schutz bekommen hatte.

Dies wiesen die Richter*innen nun ab, weil der Mann als Schleuser verurteilt ist. Sie stellten aber auch fest, dass der Mann selbst ohne Verurteilung keinen Anspruch auf Flüchtlingsschutz oder subsidiären Schutz hätte. Für ersteres muss eine politische Verfolgung vorliegen, was bei Menschen aus Syrien eher selten festgestellt wird. Subsidiären Schutz, der oft bei der Bedrohung durch einen Bürgerkrieg ausgesprochen wird, haben Syrer*innen aber bisher in vielen Fällen erhalten.

Genau daran rüttelt nun das Gerichtsurteil: Zwar stellen die Richter*innen fest, dass in Syrien und der Herkunftsprovinz des Mannes, Hasaka, durchaus noch gekämpft werde, dies erreiche „jedoch kein solches Niveau (mehr), dass Zivilpersonen beachtlich wahrscheinlich damit rechnen müssen, im Rahmen dieser Auseinandersetzungen und Anschläge getötet oder verletzt zu werden.“ Es ist das erste Mal, dass ein so wichtiges Gericht eine derartige Entscheidung zum subsidiären Schutz trifft. Es könnte passieren, dass sich andere Gerichte daran künftig orientieren.

„An der Realität vorbei“

Menschenrechtsorganisationen sind entsprechend entsetzt. „Die Situation in Syrien ist weiterhin katastrophal“, betont Sophie Scheytt von Amnesty International. „Der bewaffnete Konflikt in Syrien ist nicht vorbei, sondern tobt unverändert weiter.“ Wiebke Judith von ProAsyl sagt der taz, es sei „vermessen“ darüber zu spekulieren, ob Syrien sicher sei. „Wir wissen, dass die Lage in Syrien extrem prekär ist.“ Das Urteil gehe „an der Realität vorbei“.

Offen ist, ob das Urteil die Entscheidungspraxis des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (BAMF) beeinflussen wird. Personen, die bereits Schutz erhalten haben, wird dieser aber wohl nicht wieder entzogen. Das BAMF geht diesen Schritt bisher nur selten und viele der Syrer*innen, die 2015 und 2016 nach Deutschland kamen, sind inzwischen ohnehin eingebürgert. Relevant könnte das Urteil vor allem für Personen werden, über deren Asylantrag erst noch entschieden wird.

Selbst wenn das BAMF künftig keine Grundlage mehr für subsidiären Schutz sähe, dürfte Neuankömmlingen aus Syrien aber trotzdem keine Abschiebung drohen: Zum einen dürfte dann ein Abschiebeverbot greifen, für das die Anforderungen niedriger sind als für subsidiären Schutz. Zum andern hat Deutschland derzeit keine diplomatischen Kontakte zu Syrien – genau diese wären aber nötig, um Abschiebungen in der Praxis umzusetzen.

Zuletzt hatte Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) allerdings angekündigt, zumindest die Abschiebung von Straftätern, Gefährdern und Terror-Sympathisanten durch eine Kooperation mit Nachbarländern Syriens wieder zu ermöglichen.

Arbeitsmarktintegration gelingt

Eine am Dienstag veröffentlichte Studie des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung zeigt derweil, dass sich syrische und irakische Geflüchtete gut in den deutschen Arbeitsmarkt integrieren. Die Coronapandemie hatte diese positive Entwicklung nur kurzzeitig unterbrochen.

Für die Untersuchung wurden knapp 3.500 syrische und irakische Geflüchtete, die nach ihrer Ankunft in Deutschland Sozialhilfeleistungen bezogen, über einen Zeitraum von sechs Jahren ab 2016 beobachtet. 2022 übten knapp 60 Prozent der Geflüchteten eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung aus.

Die Quote der Sozialhilfeempfänger*innen sank kontinuierlich: von gut 70 Prozent im Jahr 2016 auf etwa 30 Prozent im Jahr 2022. Für Geflüchtete, die zwischen 2014 und 2016 erstmals Grundsicherung erhielten, galten ähnliche Ergebnisse wie für die Nachfolgegeneration.

Martin Rosemann, SPD-Bundestagsabgeordneter und Sprecher der Arbeitsgruppe Arbeit und Soziales, sagte der taz: „Die Ergebnisse der Studie sind sehr erfreulich. Sie zeigen, dass wir bei der Integration von Geflüchteten in den Arbeitsmarkt sehr gut dastehen und damit auch ein Teil des Arbeitskräftebedarfs gedeckt werden kann.“ Rosemann appellierte: „Um Geflüchtete nachhaltig in Arbeit zu vermitteln, sind eine verlässliche Kinderbetreuung, ausreichend Sprachförderung und gezielte Qualifizierung entscheidend. Das bedeutet, dass vor allem in diese Bereiche investiert werden muss“.

Trotz Gerichtsbeschluss ausgeflogen: Abschiebung um jeden Preis

Taz   19. 7. 2024, 08:47 Uhr   Frederik Eikmanns

Trotz Gerichtsbeschluss ausgeflogen: Abschiebung um jeden Preis

Ein Gericht hat die Abschiebung von Mehdi Nimzilne verboten – doch Sachsens Behörden ignorierten den Beschluss offenbar. Jetzt sitzt er in Casablanca fest.

Unter Zwang zurück nach Marokko: Sachsens Behörden scheinen es mit dem Recht nicht allzu genau zu nehmen. (Symbolbild) Foto: Julian Stratenschulte/dpa

BERLIN taz | Entgegen einer eindeutigen Gerichtsentscheidung haben sächsische Behörden den Marokkaner Mehdi Nimzilne am 11. Juli in sein Herkunftsland abgeschoben. Seine Anwältin berichtet, Verantwortliche bei der Stadt Chemnitz sowie der Landesdirektion Sachsen hätten ihr gegenüber zugegeben, den eigentlich bindenden Gerichtsbeschluss zu ignorieren. Das Dokument sei deshalb nicht an die für die Abschiebung zuständigen Polizist*innen weitergeleitet worden.

Der 34-jährige Nimzilne wohnte seit fünf Jahren in Deutschland, arbeitete als Koch und besuchte zuletzt einen Integrationskurs. Er ist mit einer Deutschen verheiratet und hat ein Kind. Seit sein Asylantrag negativ beschieden wurde, lebte er mit einer Duldung hier.

Beim Telefonat mit der taz schildert er, wie er frühmorgens aus der Flüchtlingsunterkunft bei Chemnitz geholt wurde. „Ich durfte nur ein Buch, einen Hoodie und eine Banane mitnehmen.“ Am Flughafen Frankfurt am Main dann das Telefonat mit seiner Frau, die ihn über den erfolgreichen Eilantrag gegen die Abschiebung informierte – nur um wenig später zu bemerken, dass die zuständigen Bundespolizist*innen den Gerichtsbeschluss nicht weitergeleitet bekamen. „Wie in einem schlechten Traum“, habe er sich gefühlt, so Nimzilne, „ganz taub.“ Seine Ehefrau Katja Nimzilne-Brandt sagt: „Ich finde da keine Worte für.“ Sie habe das Vertrauen in den deutschen Rechtsstaat verloren.

Der Beschluss gegen die Abschiebung liegt der taz vor. Er stammt vom Mittag des 11. Juli und geht auf einen Eilantrag von Nimzilnes Anwältin, Inga Stremlau, beim Verwaltungsgericht Chemnitz zurück. Das Dokument lässt keinen Spielraum für Interpretationen: Die Abschiebung sei „aus rechtlichen Gründen unmöglich aufgrund der familiären Bindungen des Antragstellers in Deutschland.“

„Juristisch eine Katastrophe“

Stremlau berichtet, wie am späten Nachmittag des 11. Juli aufgefallen sei, dass die Abschiebung trotz des Gerichtsbeschlusses weiter lief. Hektische Anrufe bei den Behörden. Was eine Mitarbeiterin der Ausländerbehörde Chemnitz ihr am Telefon gesagt habe, schildert Stremlau so: „Der Beschluss sei ihr bekannt, sie halte diesen aber für fehlerhaft und sei deshalb nicht daran gebunden.“ Ohnehin sei für Abschiebungen die Landesdirektion Sachsen (LDS) zuständig, habe die Sachbearbeiterin behauptet.

Bei der LDS habe sie genauso wenig Erfolg gehabt, berichtet Stremlau. „Die Mitarbeiterin hat mich mehr oder weniger ausgelacht.“ Ihr sei erklärt worden, der Gerichtsentscheid sei fehlerhaft und werde deswegen nicht weitergeleitet. Und auch hier habe man ihr erklärt, man sei eigentlich gar nicht zuständig, der Beschluss richte sich schließlich an die Stadt Chemnitz. „Nach den Telefonaten war ich wirklich fertig“, sagt Stremlau. „Der Gerichtsbeschluss war bindend und lag beiden Behörden vor. Eine von beiden hätte ihn weiterleiten müssen.“

Beim Verwaltungsgericht Chemnitz sei zu diesem Zeitpunkt niemand mehr zu erreichen gewesen, die Bundespolizist*innen am Frankfurter Flughafen hätten weiter darauf verwiesen, dass ihnen der Gerichtsbeschluss nicht vorlag. Stremlau: „Ich musste einfach zugucken.“ Um 18 Uhr hob der Abschiebeflieger mit Nimzilne ab. Den Vorgang nennt Stremlau „juristisch eine Katastrophe“, dass Behörden sich über Gerichtsbeschlüsse hinwegsetzten, mache ihr „große Sorgen“.

Fragt man nun bei den verantwortlichen Behörden nach, setzen die ihr Verwirrspiel fort. Ein Sprecher der Stadt Chemnitz sagte der taz: „Die Zuständigkeit liegt zu 100 Prozent bei der Landesverwaltung.“ Angesprochen auf mögliche Fehler in der Stadtverwaltung, sagte er: „Von unserer Seite ist da nichts passiert.“

Wird Nimzilne zurückgeholt?

Die sächsische Landesdirektion wiederum teilt schriftlich mit, der Gerichtsbeschluss richte sich „nicht gegen die LDS, sondern gegen die untere Ausländerbehörde der Stadt Chemnitz.“ Und weiter: „Die LDS war zu keinem Zeitpunkt in das gerichtliche Verfahren einbezogen. Aus diesem Grund wurde in der Kürze der zur Verfügung stehenden Zeit gegen einen Stopp der laufenden Rückführung entschieden.“ Das sächsische Innenministerium teilte mit, weil es sich um einen Einzelfall handele, äußere man sich nicht dazu, die LDS sei der zuständige Ansprechpartner.

Aus Politik und Zivilgesellschaft kam am Donnerstag scharfe Kritik an den sächsischen Behörden. Die Linken-Landtagsabgeordnete Juliane Nagel sagte der taz: „Mehdi Nimzilne muss umgehend zurückgeholt werden. Es ist nicht zu dulden, dass sich sächsische Behörden über Gerichtsentscheidungen hinwegsetzen.“ Sachsen solle „endlich aufhören, Menschen herauszuwerfen, die längst Teil dieser Gesellschaft sind.“ Und die Behörden müssten „aufhören, Recht zu brechen und sich an rechtsstaatlich und sogar selbst formulierte Prämissen halten.“

Die Grünen-Landtagsabgeordnete Petra Čagalj Sejdi nennt die Abschiebung von Nimzilne „fragwürdig“. Es entstehe „das Gefühl, dass die Behörden die Lage absichtlich verkompliziert haben“, um die Abschiebung nicht stoppen zu müssen.

Nimzilne werde ohnehin wieder einreisen können, da er als Ehemann einer Deutschen und Vater eines Kinds, das hier lebt, Anspruch auf Familienzusammenführung habe. „Warum lassen wir Menschen, die hier wohnen, arbeiten, eine Familie haben, nicht einfach ungestört weiterleben?“

Čagalj Sejdi fordert, dass auch Personen, die schon in Deutschland sind, Visa für Familienzusammenführung erhalten. „Die Bundesregierung sollte hier einfache Wege schaffen.“

Osman Oğuz, Sprecher des Sächsischen Flüchtlingsrates, sagte: „Worauf können wir uns verlassen, wenn selbst ein Gerichtsurteil missachtet wird?“ Dies dürfe „keine Normalität werden“, der Fall müsse deshalb „aufgeklärt werden und deutliche Konsequenzen nach sich ziehen.“

Nimzilne, der Abgeschobene, sitzt nun vorerst in Casablanca fest, ein Ort, an dem er sich fühle „wie ein Alien“. Zwar hat Anwältin Stremlau am Dienstag einen weiteren Gerichtsbeschluss erwirkt, laut dem die Stadt Chemnitz und die Landesdirektion ihn binnen einer Woche zurückholen müssen. Doch bisher haben die Behörden weder Nimzilne noch Angehörige oder seine Anwältin kontaktiert. Stremlau fürchtet, dass die sächsischen Behörden versuchen könnten, auch diesen Gerichtsbeschluss einfach zu ignorieren oder zumindest die Rückholung zu verzögern.

Sachsens Landesregierung fährt schon länger einen scharfen Kurs in der Migrationspolitik, in diesem Jahr wurden bereits fast 500 Personen aus dem Freistaat abgeschoben. Erst am vergangenen Freitag war der 31-jährige Robert A. in Abschiebehaft genommen worden, er sollte nach Serbien gezwungen werden – ein Land, in dem er nur die ersten acht Monate seines Lebens verbracht hatte und das ihm völlig fremd ist. Nach massiver öffentlicher Kritik stoppte der sächsische Innenminister Armin Schuster (CDU) die Abschiebung am Montag jedoch.

Auch deutschlandweit schoben die Behörden zuletzt wieder mehr ab, im ersten Quartal 2024 waren es fast 5.000 Personen, im gleichen Zeitraum des Vorjahres waren es nur etwa 3.500 gewesen. Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) hatte im Herbst angekündigt, „im großen Stil“ abschieben zu wollen, per Gesetz verschärfte die Ampel verschiedene Regelungen, die bei den Rückführungen gelten. Dazu kam zuletzt auch die Ankündigung von Scholz, Straftäter, Terror-Sympathisan*innen und Gefährder nach Afghanistan und Syrien zurückzuzwingen, obwohl dort Todesstrafe und Folter drohen.

Aktualisiert am 23.07.2024 um 08:30 Uhr. d. R.

Staatenlos in Deutschland: Abschiebung gestoppt

Taz 15. 7. 2024, 07:07 Uhr    Franziska Schindler

In letzter Minute wird die Abschiebung von Robert A. ausgesetzt. Nicht nur für seine Zukunft wird jetzt in Sachsen demonstriert.

BERLIN taz | Der sächsische Innenminister Armin Schuster (CDU) hat die Abschiebung von Robert A. gestoppt. Laut Pressemeldung des sächsischen Innenministeriums soll der Fall von Robert A. nun durch die Landesdirektion überprüft werden. Die Chemnitzer Ausländerbehörde hatte seine Abschiebung für Montag geplant.

Der 31-jährige Robert A. war am Freitag bei einem regulären Besuch bei der Ausländerbehörde inhaftiert wurden. A. lebt in Deutschland, seit er acht Monate alt ist. 1993 waren seine Eltern mit ihm vor dem Jugoslawien-Krieg zuerst in die Niederlande und dann nach Deutschland geflohen. Nun sollte er nach Serbien abgeschoben werden – ein Land, in dem er niemals war und dessen Sprache er nicht spricht. Seit Freitag befand sich A. in Abschiebehaft.

„Heute Nacht um 00:21 hat Robert mich angerufen und mir gesagt, dass er jetzt zur Abschiebung nach Frankfurt gebracht wird“, berichtet sein Anwalt Ulrich Tronczik am Telefon. Den Flüchtlingsrat erreichte in der Nacht die Information, dass A. nicht wie zuerst vermutet am Dienstag, sondern schon am Montag um 11:40 Uhr mit einem Charterflug hätte abgeschoben werden sollen. Die rettende Nachricht kam in letzter Minute: Um 10:21 Uhr veröffentlichte das sächsische Innenministerium die Mitteilung, derzufolge die Abschiebung ausgesetzt sei. Inzwischen wurde A. aus der Haft entlassen.

Entsetzen und Freude in Chemnitz

In Chemnitz, wo Robert zu Hause ist, hatte die angekündigte Abschiebung bei vielen Entsetzen ausgelöst. Hunderte waren am Sonntag zu einer Solidaritätskundgebung vor der Chemnitzer Ausländerbehörde gekommen, eine Petition gegen Roberts Abschiebung haben mehr als 20.000 Menschen unterzeichnet.

„Robert konnte es erst mal gar nicht fassen, dass die Abschiebung gestoppt ist“, sagt Tronczik, der ihm die gute Nachricht überbracht hat. Dave Schmidtke, der Robert A. schon seit Jahren kennt und beim sächsischen Flüchtlingsrat seinen Fall begleitet hat, ist erleichtert. „Aber der Kampf geht weiter“, sagt Schmidtke, „Robert hat noch immer nur eine Duldung und keineswegs einen sicheren Aufenthalt in Deutschland.“ Die Kundgebung, die für heute Nachmittag vor der Abschiebehaftanstalt in Dresden geplant war, findet trotzdem statt – nun aber vor dem Innenministerium. „Viele Menschen in einer ähnlichen Situation wie Robert werden abgeschoben, oft ohne öffentliche Aufmerksamkeit“, sagt Schmidtke. Im Koalitionsvertrag hatte die Ampelregierung eine Rückführungsoffensive angekündigt. „Die ist in vollem Gange“, sagt Schmidtke.

Voraussichtlich noch am Montag wird Robert A. nach Hause zurückkehren. In Chemnitz wird er voller Vorfreude erwartet.

 

Taz 15. 7. 2024, 07:07 Uhr    Franziska Schindler

Staatenlos in Deutschland: Nicht mal mehr geduldet

Sein ganzes Leben hat Robert A. in Deutschland verbracht. Jetzt soll der 31-Jährige abgeschoben werden – in ein Land, in dem er noch niemals war.

Abschiebungen können auch in letzter Minute gestoppt werden Foto: Sebastian Gollnow/dpa

BERLIN taz | Als Robert A. acht Monate alt war, kam er mit seinen Eltern nach Deutschland. Jetzt soll der 31-Jährige nach Serbien abgeschoben werden – ein Land, in dem er noch nie war und dessen Sprache er nicht spricht. Nach Informationen des sächsischen Flüchtlingsrats sitzt A. seit Freitag in der Abschiebehaftanstalt in Dresden. Voraussichtlich am Dienstag soll er nach Serbien abgeschoben werden.

Robert A.s Eltern waren 1993 vor dem Jugoslawienkrieg geflohen, zunächst in die Niederlande, wo A. unter anderem Namen geboren wurde, dann nach Deutschland. Seine Kindheit verbrachte er in einer Geflüchtetenunterkunft in Aue im Erzgebirge. Als Jugendlicher kam er nach Chemnitz, beendete Schule und Ausbildung zum medizinischen Bademeister und Masseur. So erzählt Dave Schmidtke vom sächsischen Flüchtlingsrat A.s Geschichte. „Danach bekam er mehrere Arbeitsangebote, aber die Ausländerbehörde verweigerte ihm jedes Mal aufs Neue die Arbeitserlaubnis.“ Sein Leben lang habe er nur eine Duldung gehabt.

Für Grünen-Politikerin Coretta Storz, die Robert A. am Freitag zu einem regulären Termin in der Ausländerbehörde begleitete, kam die Inhaftierung vollkommen unerwartet. „Wir haben uns noch gefreut, dass wir so schnell drankamen“, so Storz. Die Sachbearbeiterin habe die beiden gebeten, noch einmal Platz zu nehmen. „Dann wurden wir wieder ins Amtszimmer gerufen und unmittelbar hinter uns folgten zwei Polizisten, die gesagt haben, dass sie Robert mit in Abschiebehaft nehmen.“ Robert A. habe Storz gerade noch die Nummer seines Anwalts durchgeben können, selbst anrufen durfte er in der Behörde nicht mehr, so Storz. Noch am selben Tag ordnete das Amtsgericht Dresden Abschiebehaft an.

Ringen um eine Identität

Eigentlich hätte Freitag der Start in ein neues Leben sein sollen. Denn Robert A. hatte es nach jahrelangem Bemühen geschafft, eine niederländische Geburtsurkunde auf seinen richtigen Namen ausgestellt zu bekommen. Damit war seine Identität geklärt, was die Ausländerbehörde laut Schmidtke als Bedingung für seine Arbeitserlaubnis stellte. Die hätte er am Freitag bekommen können. Aber mit der geklärten Identität stand für die Behörde auch der Weg in seine Abschiebung offen.

„Viele Kinder von Roma, die aus dem ehemaligen Jugoslawien stammen, sind von Abschiebungen betroffen’’, sagt Petra Čagalj Sejdi, die sich beim Landesverband der Sinti und Roma in Sachsen Romano Sumnal engagiert und für die Grünen im Sächsischen Landtag sitzt. „Dabei haben sie nicht mal serbische Papiere und ihr ganzes Leben in Deutschland verbracht“, so Čagalj Sejdi. „Robert ist kein Geflüchteter, er kennt nichts anderes als das Leben in Deutschland.“ So sieht es auch das Bundesverfassungsgericht, das Menschen wie Robert A. als faktische Inländer bezeichnet und in einem im Mai veröffentlichten Beschluss ihr Recht auf Aufenthalt stärkt.

Im Mai erhielt A. ein Jobangebot als Projektmitarbeiter bei Romano Sumnal – auch das konnte er bislang nicht antreten, weil die Arbeitserlaubnis fehlte. Der sächsische Flüchtlingsrat will am Montag einen Härtefallantrag stellen, damit sein Fall erneut verhandelt wird. Dem könnte laut Flüchtlingsrat im Weg stehen, dass A. wegen eines Drogendelikts verurteilt wurde. „Das ist das Resultat der erbarmungslosen Praxis der Ausländerbehörde“, sagt Schmidtke. „Ihm wurde konsequent der Weg in den regulären Arbeitsmarkt verbaut.“

Für Montagnachmittag ist eine Solidaritätskundgebung vor der Abschiebehaftanstalt in Dresden geplant. Eine Petition, die Schmidtke initiierte, bekam bis Sonntagmittag rund 14.000 Unterschriften.

Stellungnahme Zentralrat deutscher Sinti und Roma

Unmenschlichkeit beenden – Keine Abschiebung von nach Deutschland geflüchteten Roma in ihre Herkunftsstaaten

Der Zentralrat Deutscher Sinti und Roma forderte den Innenminister Niedersachsens, Boris Pistorius, in einem Brief dazu auf, ein in Celle geborenes, schwerbehindertes sechsjähriges Kind, das im Juli 2021 mit seiner alleinstehenden Mutter nach Serbien abgeschoben worden ist, nach Deutschland zurückzuholen. In Serbien wird das Kind kaum die benötigte Betreuung und Behandlung erhalten können. Generell fordert der Zentralrat Deutscher Sinti und Roma einen Abschiebestopp für Roma aus den Westbalkanstaaten. Gleichzeitig muss es ein verstärktes Engagement Deutschlands bei der Bekämpfung des Antiziganismus in den Staaten des Westbalkans geben.

Das 2015 in Celle geborene Mädchen leidet unter einer schweren Hörminderung mit verbundener Spracherwerbsstörung, einer Mikrozephalie und einer Hüftdysplasie. Das Landessozialamt hatte deswegen bei ihm einen Grad der Behinderung von 90 Prozent festgestellt. Darüber hinaus war das Celler Jugendamt für das Mädchen seit mehren Jahren zur Unterstützung der Mutter als Ergänzungspflegerin für den Bereich der Gesundheitsfürsorge eingesetzt.  Die Mutter war in psychiatrischer Behandlung und ist Analphabetin und war daher auf Unterstützung angewiesen. Nach ihrer Abschiebung nach Serbien, ist es mehr als unwahrscheinlich, dass das Kind in Serbien die benötigte Betreuung und Behandlung erhalten wird, die es in Deutschland bekommen hat.

Der Vorsitzende des Zentralrates Deutscher Sinti und Roma, Romani Rose hat daher in einem Brief an den Innenminister des Landes Niedersachsen, Boris Pistorius, die sofortige Rückholung des Kindes und seiner Mutter nach Deutschland gefordert und dabei noch einmal betont, dass es unabhängig von der tatsächlichen rechtlichen Situation unmenschlich ist, wenn ein 2015 in Celle geborenes und schwer behindertes Kind nach Serbien abgeschoben wird.

Diese inhumane Abschiebung steht in einer Reihe von weiteren anderen. Im Juni wurde ebenfalls aus Niedersachsen ein Ehepaar, das eigentlich aus dem Kosovo stammt und seit 30 Jahren in Deutschland gelebt hat, nach Serbien abgeschoben. Sie wurden in ein Land abgeschoben, das sie nicht kennen und zu dem keine Verbindungen bestehen.

Im März 2021, starb ein 62-jähriger Mann im Kosovo, nachdem er im Oktober mit seiner Ehefrau  trotz schwerer Erkrankungen und trotz Warnungen, dass eine Gesundheitsversorgung nicht gewährleistet werden kann, von deutschen Behörden aus Baden-Württemberg in den Kosovo abgeschoben. Seine sechs Kinder, 17 Enkel und ein Urenkel leben in Deutschland. Er lebte 29 Jahre hier. Er verstarb, weil er im Kosovo eine adäquate medizinische Versorgung nicht erhalten konnte.

Dies sind drei von vielen Fällen, in den es in unverständlicher und unmenschlicher Weise zu Abschiebungen von Roma in Staaten des Westlichen Balkans gekommen ist. Um Exempel zu statuieren, werden Menschenleben riskiert bzw. sogar der Verlust von Menschenleben in Kauf genommen.

2019 hatte der Deutsche Bundestag die Unabhängige Kommission Antiziganismus (UKA) eingesetzt, die ihren Bericht mit umfassenden Empfehlungen im Juni 2021 im Bundestag vorgestellt hatte. Die Bundesregierung wird im Bericht der UKA u.a. dazu gefordert, die Einstufung der Westbalkanstaaten als sogenannte sichere Herkunftsstaaten zu beenden und einen Abschiebestopp für Roma aus dem Westbalkan einzuführen.

Der Zentralrat Deutscher Sinti und Roma fordert die Deutsche Bundesregierung und die Regierungen der Bundesländer dazu auf, Abschiebungen von Roma in ihre Herkunftsstaaten wie auch die Einstufung der Westbalkanstaaten als sogenannte sichere Herkunftsstaaten zu beenden. Stattdessen muss die Integration der Roma-Flüchtlinge in Deutschland vorangebracht werden. Parallel dazu muss sich Deutschland verstärkt für eine Verbesserung der Lage der Roma in ihren Herkunftsstaaten einsetzen.

Der Zentralrat Deutscher Sinti und Roma engagiert sich gemeinsam mit Partnerorganisationen der Roma in den Ländern des Westlichen Balkans dafür, dass der Antiziganismus ernsthaft und konsequent bekämpft wird.  Neben der Bekämpfung des Antiziganismus ist es jedoch ebenso wichtig, Roma einen gleichberechtigten Zugang zu qualifizierten Arbeitsmöglichkeiten und qualifizierter Ausbildung  zu ermöglichen. Bekämpfung des Antiziganismus und sozio-ökonomische Inklusionsmaßnahmen müssen immer Hand in Hand gehen, um erfolgreich und nachhaltig zu sein.

Deutschland muss dabei größere Verantwortung übernehmen. Arbeitsplätze und qualifizierte Berufsausbildung muss in den Ländern des Westbalkans ebenso möglich sein wie in Deutschland. Die sog. „Westbalkan Regelung“, die Staatsangehörigen der Staaten im Westbalkan einen leichteren Zugang zum deutschen Arbeitsmarkt ermöglicht, wird viel zu wenig dazu benutzt, um Roma aus dem Westbalkan einen Zugang zum legalen Arbeitsmarkt in Deutschland zu ermöglichen.

Der Zentralrat Deutscher Sinti und Roma fordert daher, dass sich Deutschland in allen genannten Bereichen stärker engagiert, um die Situation der Roma in ihren Herkunftsländern im Westbalkan nachhaltig zu verbessern – ohne dass dies zum Vorwand genommen wird, Roma in ihre Herkunftsländer abschieben zu können. Die Bundesregierung muss die Existenz von Antiziganismus und kumulativer Diskriminierung auch in diesen Staaten anerkennen, aus denen Roma nach Deutschland geflüchtet sind und ihren Beitrag dazu leisten, dass der Antiziganismus auch in den Ländern im Westbalkan bekämpft wird

Antiziganismus in Berlin: Existenzbedrohende Diskriminierung

Dokumentationsstelle zählt 210 antiziganistische Vorfälle 2023 in Berlin

  • Lola Zeller
  • Aus antzigianistischer Diskrimnierung heraus abgelehnte Anträge auf Sozialleistungen stellen Roma* vor schwerwiegende Probleme.
  • Roma* oder als solche wahrgenommene Menschen in Berlin erlebten auch im vergangenen Jahr antiziganistische Angriffe, Beleidigungen und institutionelle Diskriminierung. Das zeigen die Zahlen antiziganistischer Vorfälle, die die Dokumentationsstelle Antiziganismus (Dosta), seit 2021 Teil der Melde- und Informationsstelle Antiziganismus (Mia), 2023 aufgenommen hat. Insgesamt waren das 210 Vorfälle, wovon die meisten mit 46 Meldungen in die Kategorie Kontakt zu Leistungsbehörden fallen, gefolgt von 38 im Bildungsbereich und 33 Vorfällen in der Öffentlichkeit.
    »Im Bereich Kontakt zu Leistungsbehörden beobachten wir seit Jahren antiziganistische und in den meisten Fällen existenzbedrohende Praktiken«, schreibt Dosta im bundesweiten Bericht zu Antiziganismus

Antiziganismus in Deutschland – Die Vergangenheit ist nicht tot

nd - Journalismus von links: Nachrichten, Reportagen, Hintergründe aus Berlin-Brandenburg, Deutschland und der Welt.

Antiziganismus in Deutschland – Die Vergangenheit ist nicht tot

Der erste Jahresbericht Antiziganismus hat 621 Vorfälle erfasst – ein großer Teil in staatlichen Institutionen

  • Pauline Jäckels     
  • Für das Jahr 2022 hat die Melde- und Informationsstelle Antiziganismus (MIA) bundesweit insgesamt 621 antiziganistische Vorfälle erfasst. Der entsprechende Bericht wurde am Montag in der Bundespressekonferenz vorgestellt. Er ist der erste seiner Art – die Dunkelziffer der tatsächlichen Fälle entsprechend hoch. Trotzdem wird jetzt schon deutlich: Sinti und Roma sind in allen Lebensbereichen mit Hass, Vorurteilen und Diskriminierung konfrontiert – ob auf der Straße, in der Schule oder bei staatlichen Behörden wie etwa der Polizei.
2021 gab das Bundesfamilienministerium unter Horst Seehofer (CDU) den ersten Jahresbericht Antiziganismus in Auftrag, nachdem Sinti- und Roma-Verbände ein solches Projekt über Jahre hinweg gefordert hatten. »Das ist die erste systematische Erfassung und Dokumentation zu antiziganistischen Vorfällen in Deutschland überhaupt«, erklärte Romani Rose, Vorsitzender des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma. Der Bericht zeige die Gefahren des erstarkenden Rechtsextremismus, der sich direkt auf die Minderheit auswirke.

Die im Report erfassten Vorfälle sind in sechs Untergruppen eingeordnet: Neben einem Fall extremer Gewalt, 17 Angriffen, vier Sachbeschädigungen und elf Bedrohungen wurden 343 Fälle antiziganistischer Diskriminierung und 245 Fälle verbaler antiziganistischer Stereotypisierung dokumentiert.

Darüber hinaus führt der MIA-Report auch die unterschiedlichen Lebensbereiche, in denen Sinti und Roma diskriminiert werden, auf. Etwa jeder vierte Vorfall lässt sich dem Alltagsbereich zuordnen. Auch im Wohnkontext (121 Fälle) und im Umgang mit Behörden (119 Fälle) wurden viele Vorfälle erfasst. Diese Zahlen zeigten, so Rose, dass Antiziganismus für Betroffene alltäglich ist: »Nicht nur auf der Straße, sondern auch bei der Wohnungssuche, in der Schule oder bei staatlichen Behörden findet er statt.«

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