Denkmal für die ermordeten Sinti + Roma Europas

Liebe Leute,

unsere gemeinsame Kundgebung findet am 28. September ab 18:00 Uhr am Potsdamer Platz Berlin statt!

Wir rufen Euch alle auf zum gemeinsamen Protest für den vollständigen Erhalt unseres Denkmals für die im Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma Europas! Kommt alle nach Berlin!

Unser Denkmal ist durch den geplanten Bau einer S-Bahnlinie massiv bedroht.

Dieses Denkmal hat für uns eine große Bedeutung: Es erinnert an den Völkermord an 1,5 Millionen Roma und Sinti in ganz Europa. Für viele von uns Nachkommen der Verfolgten ist es ein Ort der Trauer um unsere Toten ohne Gräber. Es ist ein Ort der Anerkennung dieses Verbrechens und hat eine zentrale Funktion in der Erinnerungskultur, besonders angesichts des wieder erstarkenden Rassismus in Deutschland.

Die politisch Verantwortlichen auf Berliner und Bundesebene müssen ihrer erinnerungspolitischen Zusage und Verpflichtung nachkommen. Es ist nicht hinnehmbar, dass nur zehn Jahre nach seiner Errichtung dieses lang erkämpfte Denkmal nun geschädigt werden soll.

Besonders erschütternd ist die Tatsache, dass ausgerechnet die Deutsche Bahn den Auftrag erhält, unser Denkmal zu schädigen. Dies ist umso empörender, als dass die Deutsche Reichsbahn, Vorgängerorganisation der heutigen Deutschen Bahn, während der NS-Zeit an der massenhaften Deportation unserer Menschen Blutgeld verdient hat.

Wir rufen Euch auf, euch uns anzuschließen! Steht an unserer Seite: Schützen wir das Mahnmal!

Roma Antidiscrimination Network

Presseerklärung ROM e.V.

Köln, 29.07.2024      ROM e.V.

Presseerklärung zum Internationalen Tag des Gedenkens an den Genozid an Rom:nja und Sinti:zze am 02. August

Der Rom e.V. erinnert anlässlich des Gedenktages am 02. August an die Ermordung von 4.300 Rom:nja und Sinti:zze im deutschen Vernichtungslager Ausschwitz-Birkenau vor 80 Jahren. In Erinnerung an die ca. 500.000 Angehörigen der Minderheit, die im NS-besetzten Europa getötet wurden, erklärte das Europäische Parlament (erst) 2015 dieses Datum zum „Europäischen Holocaust-Gedenktag für Sinti und Roma“.

Zum Anlass des Gedenkens veranstaltet der Rom e.V. am 02.08.2024 um 14 Uhr eine Tour durch die Kölner Innenstadt. Im Rahmen der Tour „SpuRom:nja“ werden Orte aufgesucht, die mit den Geschichten von Rom:nja und Sinti:ze verknüpft sind. Interessierte können sich über den untenstehenden Kontakt anmelden. Anmeldung via Link:  https://docs.google.com/forms/

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Zur Geschichte: Der Lagerabschnitt B II e im Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau wurde im Dezember 1942 errichtet. Die erste Massenvernichtung fand im März 1943 statt. Als das Lager aufgelöst und die verbleibenden 6.000 Rom:nja und Sinti:zze in den Gaskammern ermordet werden sollten, leisteten die Häftlinge am 16. Mai 1944 Widerstand. Die SS brach die Auflösung daraufhin vorerst ab. Drei Monate später, am 2. August 1944, wurden die letzten Überlebenden in den Gaskammern umgebracht und das Lager geschlossen.

„Der Völkermord an den Sinti und Roma Europas begann nicht erst im Dezember 1942 oder Frühjahr 1943. Der Völkermord begann vor der eigenen Haustür, in der eigenen Nachbarschaft, mitten in Deutschland, in Baden und Württemberg, Hessen und der Pfalz, im Rheinland und in Hamburg, im Mai 1940. Auf Wunsch der Wehrmacht wurden die ersten familienweisen Massendeportationen eingeleitet. Polizei und Gemeindeverwaltungen waren die Hauptakteure.
[…] Diese erste Deportationswelle war die „Generalprobe zum Völkermord“ (Wolfgang Benz). Im Grunde war es seine erste Stufe. Es war der Beginn einer Eskalation von der Ausgrenzung bis hin zur systematischen Auslöschung. Die Schwelle zum Massenmord wurde überschritten. 80 Prozent der im Mai 1940 ins „Generalgouvernement“, ins vom nationalsozialistischen Deutschland besetzte Polen verschleppten knapp 3.000 Sinti und Roma überlebten nicht.“
(Quelle: https://www.sinti-roma.com/beitraege/vor-80-jahren-der-auschwitz-erlass-vom-16-dezember-1942)/

Auch in Köln wurden am 21.05.1940 eintausend Sinti:zze und Rom:nja aus dem Rheinland über den Deutzer Bahnhof nach Polen deportiert. Diese erste Massendeportation ist musterhaft für alle nachfolgenden Deportationen aus Köln. Ab 1943 werden Rom:nja und Sinti:zze auch in das KZ Auschwitz-Birkenau verschleppt. Nur wenige überleben. Der weiße Schriftzug „MAI 1940 – 1000 ROMA UND SINTI“, den der Künstler Gunter Demnig mit Unterstützung des Rom e.V. im Jahr 1990 entlang dem Leidensweg der Deportierten von Bickendorf bis zur Laderampe in Deutz mit einer selbst gefertigten Druckwalze zieht, ist inzwischen verblasst. Doch an 23 Orten in Köln ist die Spur in haltbares Messing gegossen, sodass sie noch heute an die Deportation der Rom:nja und Sinti:zze erinnert.

Pressekontakt: Marion Krämer,
marion.kramer@romev.de; Tel. 0221-2786075

Sommerpressekonferenz: Scholz hat die Symbolik umgekehrt

Taz 25. 7. 2024, 10:39 Uhr       Kommentar von  Cem-Odos Güler

Sommerpressekonferenz: Scholz hat die Symbolik umgekehrt

Wo Merkel einst ihren berühmten Satz sagte, kündigt der Kanzler nun Abschiebungen nach Syrien an – und hat damit den Anschluss zur Mitte verloren.

Foto: Fließende Übergänge zwischen Arroganz und Munterkeit: Bundeskanzler Olaf Scholz bei der Sommerpressekonfernz

Olaf Scholz baut seinen Ruf als Abschiebekanzler aus, dafür ist ihm nicht einmal die Symbolik der Berliner Sommerpressekonferenz zu schade: Neun Jahre ist es her, dass hier mit Angela Merkel eine Bundeskanzlerin von der CDU zur Aufnahme von Geflüchteten aus Syrien und Afghanistan die Losung ausgab: „Wir schaffen das.“ Scholz, ihr Nachfolger von der SPD, nutzte dieselbe Bühne am Mittwoch für die Ankündigung, dass Deutschland bald wieder nach Syrien und Afghanistan abschieben werde.

Beim Thema Migration, aber auch beim Krieg in Gaza zeigt sich, dass der Kanzler wirklich so unfähig zur Empathie ist, wie es ihm nachgesagt wird. Damit wird er bei der kommenden Wahl nicht bestehen – auch wenn er es selbst nicht wahrhaben will und schon mal ankündigte, wieder kandidieren zu wollen.

Der Bundeskanzler verbuchte es als seinen Erfolg, dass in diesem Jahr die Abschiebezahlen um 30 Prozent gestiegen sind. Scholz wirkte bei der Pressekonferenz sichtlich froh über diese Leistung. Rhetorisch ist er damit nah bei Horst Seehofer, der sich 2018 als Innenminister von der CSU über 69 Abschiebungen nach Kabul an seinem 69. Geburtstag gefreut hatte, während zeitgleich die Taliban das Land zurückeroberten. Es ist kaum vorstellbar, dass innerhalb der SPD diese Analogien nicht auch gesehen werden. Nur was folgt daraus?

Vermutlich nichts. Fast wirkt es, als seien die progressiven Kräfte in Deutschland entweder zu ausgebrannt für jegliche Debatte oder einfach faul geworden. Dass Scholz diese intellektuelle Langeweile gut verkörpert, ist nichts Neues. Tragisch ist aber seine gleichzeitige Selbstverliebtheit, die ihn tatsächlich blind zu machen scheint. Wer keine humanistischen Positionen vertreten will, sollte wissen, dass sich in Deutschland auch mit humanistischer Rhetorik Wahlen gewinnen lassen – Merkel wusste das und setzte es geschickt ein.

Ein außenpolitischer Hammer

Mit ihrem Auftritt bei der Sommerpressekonferenz 2015 wurde sie zu einem Symbol einer neuen deutschen Integrität und Menschlichkeit und konnte damit auch in der progressiven Mitte Wahlen gewinnen. Scholz hat diese Gruppe verloren.

Mit seinen Argumenten ließ der Kanzler mal wieder tief blicken. Beim Thema Migration gab er neben der Abschiebeoffensive die Interpretation zum Besten, Immigration müsse sich für Deutschland lohnen, denn es könne nicht sein, dass sich „hier jemand einen bequemen Lenz macht“.

Deutschland brauche Leute, „die hier gut reinpassen, die fleißig sind“. Wer genau hinhört, kann hier die dog whistle des Kanzlers vernehmen, mit der er für Kenner darlegt, dass „Abschiebungen“ und „faule Ausländer“ kein unzusammenhängendes Begriffspaar mehr sein muss.

Außenpolitisch hatte Scholz etwas zu präsentieren, das sich noch als echter außenpolitischer Hammer entpuppen könnte. Gemeint ist hier nicht sein Festhalten an Waffenlieferungen nach Israel, das an sich schon einer moralischen Bankrotterklärung gleich kommt.

Moralische Bankrotterklärung

Gemeint ist die „Vorbereitung“ von Abschiebungen von Syrer*innen, die eine Zusammenarbeit mit der syrischen Administration und dem Schlächter Baschar al-Assad voraussetzen würde. Glauben der Kanzler und seine Partei ernsthaft, mit solchen moralischen Verrenkungen aus dem Umfrageloch zu kriechen – und wenn ja, wäre es das wert?

Der moralische Kompass des Kanzlers braucht eine Neujustierung. Das zeigte sich auch bei Scholz Antworten zum Krieg in Gaza und dem Gutachten des Internationalen Gerichtshofs, das Israels Siedlungspolitik als völkerrechtswidrig bewertet hatte. Scholz spulte den deutschen Standard-Sprech ab, Deutschland stehe weiter hinter einer Zwei-Staaten-Lösung und führe Gespräche mit beiden Seiten.

Dass es für die verbliebenen progressiven Kräfte auf jenen „beiden Seiten“ in Israel und Palästina ein Schlag in die Magengrube ist, dass Deutschland weiterhin Waffen an die israelischen Streitkräfte liefern würde, ist dem Kanzler sichtlich egal.

 

taz  23. 7. 2024, 19:47 Uhr   Frederik Eikmanns

Syrische Geflüchtete: Richter rütteln am Schutz

Ein Gericht in Münster sieht keinen Grund mehr, Syrer*innen subsidiären Schutz zu gewähren. Eine Studie zeigt indes, wie gut sie sich integrieren.

Als Geflüchtete aus Syrien 2015 noch willkommen waren im Münsterland Foto: Funke Foto Services/imago

BERLIN taz | Ein Urteil des Oberverwaltungsgerichtes Münster stellt den subsidiären Schutz für Geflüchtete aus Syrien infrage. Die Lage dort sei nicht mehr so gefährlich, dass sie diesen Schutzstatus rechtfertige, so das Gericht in einer Mitteilung von Montag. Menschenrechtsorganisationen kritisieren das scharf.

Verhandelt wurde der Fall eines Mannes, der 2014 nach Deutschland gekommen war und dagegen geklagt hatte, dass er weder als Flüchtling anerkannt wurde noch subsidiären Schutz bekommen hatte.

Dies wiesen die Richter*innen nun ab, weil der Mann als Schleuser verurteilt ist. Sie stellten aber auch fest, dass der Mann selbst ohne Verurteilung keinen Anspruch auf Flüchtlingsschutz oder subsidiären Schutz hätte. Für ersteres muss eine politische Verfolgung vorliegen, was bei Menschen aus Syrien eher selten festgestellt wird. Subsidiären Schutz, der oft bei der Bedrohung durch einen Bürgerkrieg ausgesprochen wird, haben Syrer*innen aber bisher in vielen Fällen erhalten.

Genau daran rüttelt nun das Gerichtsurteil: Zwar stellen die Richter*innen fest, dass in Syrien und der Herkunftsprovinz des Mannes, Hasaka, durchaus noch gekämpft werde, dies erreiche „jedoch kein solches Niveau (mehr), dass Zivilpersonen beachtlich wahrscheinlich damit rechnen müssen, im Rahmen dieser Auseinandersetzungen und Anschläge getötet oder verletzt zu werden.“ Es ist das erste Mal, dass ein so wichtiges Gericht eine derartige Entscheidung zum subsidiären Schutz trifft. Es könnte passieren, dass sich andere Gerichte daran künftig orientieren.

„An der Realität vorbei“

Menschenrechtsorganisationen sind entsprechend entsetzt. „Die Situation in Syrien ist weiterhin katastrophal“, betont Sophie Scheytt von Amnesty International. „Der bewaffnete Konflikt in Syrien ist nicht vorbei, sondern tobt unverändert weiter.“ Wiebke Judith von ProAsyl sagt der taz, es sei „vermessen“ darüber zu spekulieren, ob Syrien sicher sei. „Wir wissen, dass die Lage in Syrien extrem prekär ist.“ Das Urteil gehe „an der Realität vorbei“.

Offen ist, ob das Urteil die Entscheidungspraxis des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (BAMF) beeinflussen wird. Personen, die bereits Schutz erhalten haben, wird dieser aber wohl nicht wieder entzogen. Das BAMF geht diesen Schritt bisher nur selten und viele der Syrer*innen, die 2015 und 2016 nach Deutschland kamen, sind inzwischen ohnehin eingebürgert. Relevant könnte das Urteil vor allem für Personen werden, über deren Asylantrag erst noch entschieden wird.

Selbst wenn das BAMF künftig keine Grundlage mehr für subsidiären Schutz sähe, dürfte Neuankömmlingen aus Syrien aber trotzdem keine Abschiebung drohen: Zum einen dürfte dann ein Abschiebeverbot greifen, für das die Anforderungen niedriger sind als für subsidiären Schutz. Zum andern hat Deutschland derzeit keine diplomatischen Kontakte zu Syrien – genau diese wären aber nötig, um Abschiebungen in der Praxis umzusetzen.

Zuletzt hatte Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) allerdings angekündigt, zumindest die Abschiebung von Straftätern, Gefährdern und Terror-Sympathisanten durch eine Kooperation mit Nachbarländern Syriens wieder zu ermöglichen.

Arbeitsmarktintegration gelingt

Eine am Dienstag veröffentlichte Studie des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung zeigt derweil, dass sich syrische und irakische Geflüchtete gut in den deutschen Arbeitsmarkt integrieren. Die Coronapandemie hatte diese positive Entwicklung nur kurzzeitig unterbrochen.

Für die Untersuchung wurden knapp 3.500 syrische und irakische Geflüchtete, die nach ihrer Ankunft in Deutschland Sozialhilfeleistungen bezogen, über einen Zeitraum von sechs Jahren ab 2016 beobachtet. 2022 übten knapp 60 Prozent der Geflüchteten eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung aus.

Die Quote der Sozialhilfeempfänger*innen sank kontinuierlich: von gut 70 Prozent im Jahr 2016 auf etwa 30 Prozent im Jahr 2022. Für Geflüchtete, die zwischen 2014 und 2016 erstmals Grundsicherung erhielten, galten ähnliche Ergebnisse wie für die Nachfolgegeneration.

Martin Rosemann, SPD-Bundestagsabgeordneter und Sprecher der Arbeitsgruppe Arbeit und Soziales, sagte der taz: „Die Ergebnisse der Studie sind sehr erfreulich. Sie zeigen, dass wir bei der Integration von Geflüchteten in den Arbeitsmarkt sehr gut dastehen und damit auch ein Teil des Arbeitskräftebedarfs gedeckt werden kann.“ Rosemann appellierte: „Um Geflüchtete nachhaltig in Arbeit zu vermitteln, sind eine verlässliche Kinderbetreuung, ausreichend Sprachförderung und gezielte Qualifizierung entscheidend. Das bedeutet, dass vor allem in diese Bereiche investiert werden muss“.

Trotz Gerichtsbeschluss ausgeflogen: Abschiebung um jeden Preis

Taz   19. 7. 2024, 08:47 Uhr   Frederik Eikmanns

Trotz Gerichtsbeschluss ausgeflogen: Abschiebung um jeden Preis

Ein Gericht hat die Abschiebung von Mehdi Nimzilne verboten – doch Sachsens Behörden ignorierten den Beschluss offenbar. Jetzt sitzt er in Casablanca fest.

Unter Zwang zurück nach Marokko: Sachsens Behörden scheinen es mit dem Recht nicht allzu genau zu nehmen. (Symbolbild) Foto: Julian Stratenschulte/dpa

BERLIN taz | Entgegen einer eindeutigen Gerichtsentscheidung haben sächsische Behörden den Marokkaner Mehdi Nimzilne am 11. Juli in sein Herkunftsland abgeschoben. Seine Anwältin berichtet, Verantwortliche bei der Stadt Chemnitz sowie der Landesdirektion Sachsen hätten ihr gegenüber zugegeben, den eigentlich bindenden Gerichtsbeschluss zu ignorieren. Das Dokument sei deshalb nicht an die für die Abschiebung zuständigen Polizist*innen weitergeleitet worden.

Der 34-jährige Nimzilne wohnte seit fünf Jahren in Deutschland, arbeitete als Koch und besuchte zuletzt einen Integrationskurs. Er ist mit einer Deutschen verheiratet und hat ein Kind. Seit sein Asylantrag negativ beschieden wurde, lebte er mit einer Duldung hier.

Beim Telefonat mit der taz schildert er, wie er frühmorgens aus der Flüchtlingsunterkunft bei Chemnitz geholt wurde. „Ich durfte nur ein Buch, einen Hoodie und eine Banane mitnehmen.“ Am Flughafen Frankfurt am Main dann das Telefonat mit seiner Frau, die ihn über den erfolgreichen Eilantrag gegen die Abschiebung informierte – nur um wenig später zu bemerken, dass die zuständigen Bundespolizist*innen den Gerichtsbeschluss nicht weitergeleitet bekamen. „Wie in einem schlechten Traum“, habe er sich gefühlt, so Nimzilne, „ganz taub.“ Seine Ehefrau Katja Nimzilne-Brandt sagt: „Ich finde da keine Worte für.“ Sie habe das Vertrauen in den deutschen Rechtsstaat verloren.

Der Beschluss gegen die Abschiebung liegt der taz vor. Er stammt vom Mittag des 11. Juli und geht auf einen Eilantrag von Nimzilnes Anwältin, Inga Stremlau, beim Verwaltungsgericht Chemnitz zurück. Das Dokument lässt keinen Spielraum für Interpretationen: Die Abschiebung sei „aus rechtlichen Gründen unmöglich aufgrund der familiären Bindungen des Antragstellers in Deutschland.“

„Juristisch eine Katastrophe“

Stremlau berichtet, wie am späten Nachmittag des 11. Juli aufgefallen sei, dass die Abschiebung trotz des Gerichtsbeschlusses weiter lief. Hektische Anrufe bei den Behörden. Was eine Mitarbeiterin der Ausländerbehörde Chemnitz ihr am Telefon gesagt habe, schildert Stremlau so: „Der Beschluss sei ihr bekannt, sie halte diesen aber für fehlerhaft und sei deshalb nicht daran gebunden.“ Ohnehin sei für Abschiebungen die Landesdirektion Sachsen (LDS) zuständig, habe die Sachbearbeiterin behauptet.

Bei der LDS habe sie genauso wenig Erfolg gehabt, berichtet Stremlau. „Die Mitarbeiterin hat mich mehr oder weniger ausgelacht.“ Ihr sei erklärt worden, der Gerichtsentscheid sei fehlerhaft und werde deswegen nicht weitergeleitet. Und auch hier habe man ihr erklärt, man sei eigentlich gar nicht zuständig, der Beschluss richte sich schließlich an die Stadt Chemnitz. „Nach den Telefonaten war ich wirklich fertig“, sagt Stremlau. „Der Gerichtsbeschluss war bindend und lag beiden Behörden vor. Eine von beiden hätte ihn weiterleiten müssen.“

Beim Verwaltungsgericht Chemnitz sei zu diesem Zeitpunkt niemand mehr zu erreichen gewesen, die Bundespolizist*innen am Frankfurter Flughafen hätten weiter darauf verwiesen, dass ihnen der Gerichtsbeschluss nicht vorlag. Stremlau: „Ich musste einfach zugucken.“ Um 18 Uhr hob der Abschiebeflieger mit Nimzilne ab. Den Vorgang nennt Stremlau „juristisch eine Katastrophe“, dass Behörden sich über Gerichtsbeschlüsse hinwegsetzten, mache ihr „große Sorgen“.

Fragt man nun bei den verantwortlichen Behörden nach, setzen die ihr Verwirrspiel fort. Ein Sprecher der Stadt Chemnitz sagte der taz: „Die Zuständigkeit liegt zu 100 Prozent bei der Landesverwaltung.“ Angesprochen auf mögliche Fehler in der Stadtverwaltung, sagte er: „Von unserer Seite ist da nichts passiert.“

Wird Nimzilne zurückgeholt?

Die sächsische Landesdirektion wiederum teilt schriftlich mit, der Gerichtsbeschluss richte sich „nicht gegen die LDS, sondern gegen die untere Ausländerbehörde der Stadt Chemnitz.“ Und weiter: „Die LDS war zu keinem Zeitpunkt in das gerichtliche Verfahren einbezogen. Aus diesem Grund wurde in der Kürze der zur Verfügung stehenden Zeit gegen einen Stopp der laufenden Rückführung entschieden.“ Das sächsische Innenministerium teilte mit, weil es sich um einen Einzelfall handele, äußere man sich nicht dazu, die LDS sei der zuständige Ansprechpartner.

Aus Politik und Zivilgesellschaft kam am Donnerstag scharfe Kritik an den sächsischen Behörden. Die Linken-Landtagsabgeordnete Juliane Nagel sagte der taz: „Mehdi Nimzilne muss umgehend zurückgeholt werden. Es ist nicht zu dulden, dass sich sächsische Behörden über Gerichtsentscheidungen hinwegsetzen.“ Sachsen solle „endlich aufhören, Menschen herauszuwerfen, die längst Teil dieser Gesellschaft sind.“ Und die Behörden müssten „aufhören, Recht zu brechen und sich an rechtsstaatlich und sogar selbst formulierte Prämissen halten.“

Die Grünen-Landtagsabgeordnete Petra Čagalj Sejdi nennt die Abschiebung von Nimzilne „fragwürdig“. Es entstehe „das Gefühl, dass die Behörden die Lage absichtlich verkompliziert haben“, um die Abschiebung nicht stoppen zu müssen.

Nimzilne werde ohnehin wieder einreisen können, da er als Ehemann einer Deutschen und Vater eines Kinds, das hier lebt, Anspruch auf Familienzusammenführung habe. „Warum lassen wir Menschen, die hier wohnen, arbeiten, eine Familie haben, nicht einfach ungestört weiterleben?“

Čagalj Sejdi fordert, dass auch Personen, die schon in Deutschland sind, Visa für Familienzusammenführung erhalten. „Die Bundesregierung sollte hier einfache Wege schaffen.“

Osman Oğuz, Sprecher des Sächsischen Flüchtlingsrates, sagte: „Worauf können wir uns verlassen, wenn selbst ein Gerichtsurteil missachtet wird?“ Dies dürfe „keine Normalität werden“, der Fall müsse deshalb „aufgeklärt werden und deutliche Konsequenzen nach sich ziehen.“

Nimzilne, der Abgeschobene, sitzt nun vorerst in Casablanca fest, ein Ort, an dem er sich fühle „wie ein Alien“. Zwar hat Anwältin Stremlau am Dienstag einen weiteren Gerichtsbeschluss erwirkt, laut dem die Stadt Chemnitz und die Landesdirektion ihn binnen einer Woche zurückholen müssen. Doch bisher haben die Behörden weder Nimzilne noch Angehörige oder seine Anwältin kontaktiert. Stremlau fürchtet, dass die sächsischen Behörden versuchen könnten, auch diesen Gerichtsbeschluss einfach zu ignorieren oder zumindest die Rückholung zu verzögern.

Sachsens Landesregierung fährt schon länger einen scharfen Kurs in der Migrationspolitik, in diesem Jahr wurden bereits fast 500 Personen aus dem Freistaat abgeschoben. Erst am vergangenen Freitag war der 31-jährige Robert A. in Abschiebehaft genommen worden, er sollte nach Serbien gezwungen werden – ein Land, in dem er nur die ersten acht Monate seines Lebens verbracht hatte und das ihm völlig fremd ist. Nach massiver öffentlicher Kritik stoppte der sächsische Innenminister Armin Schuster (CDU) die Abschiebung am Montag jedoch.

Auch deutschlandweit schoben die Behörden zuletzt wieder mehr ab, im ersten Quartal 2024 waren es fast 5.000 Personen, im gleichen Zeitraum des Vorjahres waren es nur etwa 3.500 gewesen. Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) hatte im Herbst angekündigt, „im großen Stil“ abschieben zu wollen, per Gesetz verschärfte die Ampel verschiedene Regelungen, die bei den Rückführungen gelten. Dazu kam zuletzt auch die Ankündigung von Scholz, Straftäter, Terror-Sympathisan*innen und Gefährder nach Afghanistan und Syrien zurückzuzwingen, obwohl dort Todesstrafe und Folter drohen.

Aktualisiert am 23.07.2024 um 08:30 Uhr. d. R.

Staatenlos in Deutschland: Abschiebung gestoppt

Taz 15. 7. 2024, 07:07 Uhr    Franziska Schindler

In letzter Minute wird die Abschiebung von Robert A. ausgesetzt. Nicht nur für seine Zukunft wird jetzt in Sachsen demonstriert.

BERLIN taz | Der sächsische Innenminister Armin Schuster (CDU) hat die Abschiebung von Robert A. gestoppt. Laut Pressemeldung des sächsischen Innenministeriums soll der Fall von Robert A. nun durch die Landesdirektion überprüft werden. Die Chemnitzer Ausländerbehörde hatte seine Abschiebung für Montag geplant.

Der 31-jährige Robert A. war am Freitag bei einem regulären Besuch bei der Ausländerbehörde inhaftiert wurden. A. lebt in Deutschland, seit er acht Monate alt ist. 1993 waren seine Eltern mit ihm vor dem Jugoslawien-Krieg zuerst in die Niederlande und dann nach Deutschland geflohen. Nun sollte er nach Serbien abgeschoben werden – ein Land, in dem er niemals war und dessen Sprache er nicht spricht. Seit Freitag befand sich A. in Abschiebehaft.

„Heute Nacht um 00:21 hat Robert mich angerufen und mir gesagt, dass er jetzt zur Abschiebung nach Frankfurt gebracht wird“, berichtet sein Anwalt Ulrich Tronczik am Telefon. Den Flüchtlingsrat erreichte in der Nacht die Information, dass A. nicht wie zuerst vermutet am Dienstag, sondern schon am Montag um 11:40 Uhr mit einem Charterflug hätte abgeschoben werden sollen. Die rettende Nachricht kam in letzter Minute: Um 10:21 Uhr veröffentlichte das sächsische Innenministerium die Mitteilung, derzufolge die Abschiebung ausgesetzt sei. Inzwischen wurde A. aus der Haft entlassen.

Entsetzen und Freude in Chemnitz

In Chemnitz, wo Robert zu Hause ist, hatte die angekündigte Abschiebung bei vielen Entsetzen ausgelöst. Hunderte waren am Sonntag zu einer Solidaritätskundgebung vor der Chemnitzer Ausländerbehörde gekommen, eine Petition gegen Roberts Abschiebung haben mehr als 20.000 Menschen unterzeichnet.

„Robert konnte es erst mal gar nicht fassen, dass die Abschiebung gestoppt ist“, sagt Tronczik, der ihm die gute Nachricht überbracht hat. Dave Schmidtke, der Robert A. schon seit Jahren kennt und beim sächsischen Flüchtlingsrat seinen Fall begleitet hat, ist erleichtert. „Aber der Kampf geht weiter“, sagt Schmidtke, „Robert hat noch immer nur eine Duldung und keineswegs einen sicheren Aufenthalt in Deutschland.“ Die Kundgebung, die für heute Nachmittag vor der Abschiebehaftanstalt in Dresden geplant war, findet trotzdem statt – nun aber vor dem Innenministerium. „Viele Menschen in einer ähnlichen Situation wie Robert werden abgeschoben, oft ohne öffentliche Aufmerksamkeit“, sagt Schmidtke. Im Koalitionsvertrag hatte die Ampelregierung eine Rückführungsoffensive angekündigt. „Die ist in vollem Gange“, sagt Schmidtke.

Voraussichtlich noch am Montag wird Robert A. nach Hause zurückkehren. In Chemnitz wird er voller Vorfreude erwartet.

 

Taz 15. 7. 2024, 07:07 Uhr    Franziska Schindler

Staatenlos in Deutschland: Nicht mal mehr geduldet

Sein ganzes Leben hat Robert A. in Deutschland verbracht. Jetzt soll der 31-Jährige abgeschoben werden – in ein Land, in dem er noch niemals war.

Abschiebungen können auch in letzter Minute gestoppt werden Foto: Sebastian Gollnow/dpa

BERLIN taz | Als Robert A. acht Monate alt war, kam er mit seinen Eltern nach Deutschland. Jetzt soll der 31-Jährige nach Serbien abgeschoben werden – ein Land, in dem er noch nie war und dessen Sprache er nicht spricht. Nach Informationen des sächsischen Flüchtlingsrats sitzt A. seit Freitag in der Abschiebehaftanstalt in Dresden. Voraussichtlich am Dienstag soll er nach Serbien abgeschoben werden.

Robert A.s Eltern waren 1993 vor dem Jugoslawienkrieg geflohen, zunächst in die Niederlande, wo A. unter anderem Namen geboren wurde, dann nach Deutschland. Seine Kindheit verbrachte er in einer Geflüchtetenunterkunft in Aue im Erzgebirge. Als Jugendlicher kam er nach Chemnitz, beendete Schule und Ausbildung zum medizinischen Bademeister und Masseur. So erzählt Dave Schmidtke vom sächsischen Flüchtlingsrat A.s Geschichte. „Danach bekam er mehrere Arbeitsangebote, aber die Ausländerbehörde verweigerte ihm jedes Mal aufs Neue die Arbeitserlaubnis.“ Sein Leben lang habe er nur eine Duldung gehabt.

Für Grünen-Politikerin Coretta Storz, die Robert A. am Freitag zu einem regulären Termin in der Ausländerbehörde begleitete, kam die Inhaftierung vollkommen unerwartet. „Wir haben uns noch gefreut, dass wir so schnell drankamen“, so Storz. Die Sachbearbeiterin habe die beiden gebeten, noch einmal Platz zu nehmen. „Dann wurden wir wieder ins Amtszimmer gerufen und unmittelbar hinter uns folgten zwei Polizisten, die gesagt haben, dass sie Robert mit in Abschiebehaft nehmen.“ Robert A. habe Storz gerade noch die Nummer seines Anwalts durchgeben können, selbst anrufen durfte er in der Behörde nicht mehr, so Storz. Noch am selben Tag ordnete das Amtsgericht Dresden Abschiebehaft an.

Ringen um eine Identität

Eigentlich hätte Freitag der Start in ein neues Leben sein sollen. Denn Robert A. hatte es nach jahrelangem Bemühen geschafft, eine niederländische Geburtsurkunde auf seinen richtigen Namen ausgestellt zu bekommen. Damit war seine Identität geklärt, was die Ausländerbehörde laut Schmidtke als Bedingung für seine Arbeitserlaubnis stellte. Die hätte er am Freitag bekommen können. Aber mit der geklärten Identität stand für die Behörde auch der Weg in seine Abschiebung offen.

„Viele Kinder von Roma, die aus dem ehemaligen Jugoslawien stammen, sind von Abschiebungen betroffen’’, sagt Petra Čagalj Sejdi, die sich beim Landesverband der Sinti und Roma in Sachsen Romano Sumnal engagiert und für die Grünen im Sächsischen Landtag sitzt. „Dabei haben sie nicht mal serbische Papiere und ihr ganzes Leben in Deutschland verbracht“, so Čagalj Sejdi. „Robert ist kein Geflüchteter, er kennt nichts anderes als das Leben in Deutschland.“ So sieht es auch das Bundesverfassungsgericht, das Menschen wie Robert A. als faktische Inländer bezeichnet und in einem im Mai veröffentlichten Beschluss ihr Recht auf Aufenthalt stärkt.

Im Mai erhielt A. ein Jobangebot als Projektmitarbeiter bei Romano Sumnal – auch das konnte er bislang nicht antreten, weil die Arbeitserlaubnis fehlte. Der sächsische Flüchtlingsrat will am Montag einen Härtefallantrag stellen, damit sein Fall erneut verhandelt wird. Dem könnte laut Flüchtlingsrat im Weg stehen, dass A. wegen eines Drogendelikts verurteilt wurde. „Das ist das Resultat der erbarmungslosen Praxis der Ausländerbehörde“, sagt Schmidtke. „Ihm wurde konsequent der Weg in den regulären Arbeitsmarkt verbaut.“

Für Montagnachmittag ist eine Solidaritätskundgebung vor der Abschiebehaftanstalt in Dresden geplant. Eine Petition, die Schmidtke initiierte, bekam bis Sonntagmittag rund 14.000 Unterschriften.

Stellungnahme Zentralrat deutscher Sinti und Roma

Unmenschlichkeit beenden – Keine Abschiebung von nach Deutschland geflüchteten Roma in ihre Herkunftsstaaten

Der Zentralrat Deutscher Sinti und Roma forderte den Innenminister Niedersachsens, Boris Pistorius, in einem Brief dazu auf, ein in Celle geborenes, schwerbehindertes sechsjähriges Kind, das im Juli 2021 mit seiner alleinstehenden Mutter nach Serbien abgeschoben worden ist, nach Deutschland zurückzuholen. In Serbien wird das Kind kaum die benötigte Betreuung und Behandlung erhalten können. Generell fordert der Zentralrat Deutscher Sinti und Roma einen Abschiebestopp für Roma aus den Westbalkanstaaten. Gleichzeitig muss es ein verstärktes Engagement Deutschlands bei der Bekämpfung des Antiziganismus in den Staaten des Westbalkans geben.

Das 2015 in Celle geborene Mädchen leidet unter einer schweren Hörminderung mit verbundener Spracherwerbsstörung, einer Mikrozephalie und einer Hüftdysplasie. Das Landessozialamt hatte deswegen bei ihm einen Grad der Behinderung von 90 Prozent festgestellt. Darüber hinaus war das Celler Jugendamt für das Mädchen seit mehren Jahren zur Unterstützung der Mutter als Ergänzungspflegerin für den Bereich der Gesundheitsfürsorge eingesetzt.  Die Mutter war in psychiatrischer Behandlung und ist Analphabetin und war daher auf Unterstützung angewiesen. Nach ihrer Abschiebung nach Serbien, ist es mehr als unwahrscheinlich, dass das Kind in Serbien die benötigte Betreuung und Behandlung erhalten wird, die es in Deutschland bekommen hat.

Der Vorsitzende des Zentralrates Deutscher Sinti und Roma, Romani Rose hat daher in einem Brief an den Innenminister des Landes Niedersachsen, Boris Pistorius, die sofortige Rückholung des Kindes und seiner Mutter nach Deutschland gefordert und dabei noch einmal betont, dass es unabhängig von der tatsächlichen rechtlichen Situation unmenschlich ist, wenn ein 2015 in Celle geborenes und schwer behindertes Kind nach Serbien abgeschoben wird.

Diese inhumane Abschiebung steht in einer Reihe von weiteren anderen. Im Juni wurde ebenfalls aus Niedersachsen ein Ehepaar, das eigentlich aus dem Kosovo stammt und seit 30 Jahren in Deutschland gelebt hat, nach Serbien abgeschoben. Sie wurden in ein Land abgeschoben, das sie nicht kennen und zu dem keine Verbindungen bestehen.

Im März 2021, starb ein 62-jähriger Mann im Kosovo, nachdem er im Oktober mit seiner Ehefrau  trotz schwerer Erkrankungen und trotz Warnungen, dass eine Gesundheitsversorgung nicht gewährleistet werden kann, von deutschen Behörden aus Baden-Württemberg in den Kosovo abgeschoben. Seine sechs Kinder, 17 Enkel und ein Urenkel leben in Deutschland. Er lebte 29 Jahre hier. Er verstarb, weil er im Kosovo eine adäquate medizinische Versorgung nicht erhalten konnte.

Dies sind drei von vielen Fällen, in den es in unverständlicher und unmenschlicher Weise zu Abschiebungen von Roma in Staaten des Westlichen Balkans gekommen ist. Um Exempel zu statuieren, werden Menschenleben riskiert bzw. sogar der Verlust von Menschenleben in Kauf genommen.

2019 hatte der Deutsche Bundestag die Unabhängige Kommission Antiziganismus (UKA) eingesetzt, die ihren Bericht mit umfassenden Empfehlungen im Juni 2021 im Bundestag vorgestellt hatte. Die Bundesregierung wird im Bericht der UKA u.a. dazu gefordert, die Einstufung der Westbalkanstaaten als sogenannte sichere Herkunftsstaaten zu beenden und einen Abschiebestopp für Roma aus dem Westbalkan einzuführen.

Der Zentralrat Deutscher Sinti und Roma fordert die Deutsche Bundesregierung und die Regierungen der Bundesländer dazu auf, Abschiebungen von Roma in ihre Herkunftsstaaten wie auch die Einstufung der Westbalkanstaaten als sogenannte sichere Herkunftsstaaten zu beenden. Stattdessen muss die Integration der Roma-Flüchtlinge in Deutschland vorangebracht werden. Parallel dazu muss sich Deutschland verstärkt für eine Verbesserung der Lage der Roma in ihren Herkunftsstaaten einsetzen.

Der Zentralrat Deutscher Sinti und Roma engagiert sich gemeinsam mit Partnerorganisationen der Roma in den Ländern des Westlichen Balkans dafür, dass der Antiziganismus ernsthaft und konsequent bekämpft wird.  Neben der Bekämpfung des Antiziganismus ist es jedoch ebenso wichtig, Roma einen gleichberechtigten Zugang zu qualifizierten Arbeitsmöglichkeiten und qualifizierter Ausbildung  zu ermöglichen. Bekämpfung des Antiziganismus und sozio-ökonomische Inklusionsmaßnahmen müssen immer Hand in Hand gehen, um erfolgreich und nachhaltig zu sein.

Deutschland muss dabei größere Verantwortung übernehmen. Arbeitsplätze und qualifizierte Berufsausbildung muss in den Ländern des Westbalkans ebenso möglich sein wie in Deutschland. Die sog. „Westbalkan Regelung“, die Staatsangehörigen der Staaten im Westbalkan einen leichteren Zugang zum deutschen Arbeitsmarkt ermöglicht, wird viel zu wenig dazu benutzt, um Roma aus dem Westbalkan einen Zugang zum legalen Arbeitsmarkt in Deutschland zu ermöglichen.

Der Zentralrat Deutscher Sinti und Roma fordert daher, dass sich Deutschland in allen genannten Bereichen stärker engagiert, um die Situation der Roma in ihren Herkunftsländern im Westbalkan nachhaltig zu verbessern – ohne dass dies zum Vorwand genommen wird, Roma in ihre Herkunftsländer abschieben zu können. Die Bundesregierung muss die Existenz von Antiziganismus und kumulativer Diskriminierung auch in diesen Staaten anerkennen, aus denen Roma nach Deutschland geflüchtet sind und ihren Beitrag dazu leisten, dass der Antiziganismus auch in den Ländern im Westbalkan bekämpft wird

Antiziganismus in Berlin: Existenzbedrohende Diskriminierung

Dokumentationsstelle zählt 210 antiziganistische Vorfälle 2023 in Berlin

  • Lola Zeller
  • Aus antzigianistischer Diskrimnierung heraus abgelehnte Anträge auf Sozialleistungen stellen Roma* vor schwerwiegende Probleme.
  • Roma* oder als solche wahrgenommene Menschen in Berlin erlebten auch im vergangenen Jahr antiziganistische Angriffe, Beleidigungen und institutionelle Diskriminierung. Das zeigen die Zahlen antiziganistischer Vorfälle, die die Dokumentationsstelle Antiziganismus (Dosta), seit 2021 Teil der Melde- und Informationsstelle Antiziganismus (Mia), 2023 aufgenommen hat. Insgesamt waren das 210 Vorfälle, wovon die meisten mit 46 Meldungen in die Kategorie Kontakt zu Leistungsbehörden fallen, gefolgt von 38 im Bildungsbereich und 33 Vorfällen in der Öffentlichkeit.
    »Im Bereich Kontakt zu Leistungsbehörden beobachten wir seit Jahren antiziganistische und in den meisten Fällen existenzbedrohende Praktiken«, schreibt Dosta im bundesweiten Bericht zu Antiziganismus

Antiziganismus in Deutschland – Die Vergangenheit ist nicht tot

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Antiziganismus in Deutschland – Die Vergangenheit ist nicht tot

Der erste Jahresbericht Antiziganismus hat 621 Vorfälle erfasst – ein großer Teil in staatlichen Institutionen

  • Pauline Jäckels     
  • Für das Jahr 2022 hat die Melde- und Informationsstelle Antiziganismus (MIA) bundesweit insgesamt 621 antiziganistische Vorfälle erfasst. Der entsprechende Bericht wurde am Montag in der Bundespressekonferenz vorgestellt. Er ist der erste seiner Art – die Dunkelziffer der tatsächlichen Fälle entsprechend hoch. Trotzdem wird jetzt schon deutlich: Sinti und Roma sind in allen Lebensbereichen mit Hass, Vorurteilen und Diskriminierung konfrontiert – ob auf der Straße, in der Schule oder bei staatlichen Behörden wie etwa der Polizei.
2021 gab das Bundesfamilienministerium unter Horst Seehofer (CDU) den ersten Jahresbericht Antiziganismus in Auftrag, nachdem Sinti- und Roma-Verbände ein solches Projekt über Jahre hinweg gefordert hatten. »Das ist die erste systematische Erfassung und Dokumentation zu antiziganistischen Vorfällen in Deutschland überhaupt«, erklärte Romani Rose, Vorsitzender des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma. Der Bericht zeige die Gefahren des erstarkenden Rechtsextremismus, der sich direkt auf die Minderheit auswirke.

Die im Report erfassten Vorfälle sind in sechs Untergruppen eingeordnet: Neben einem Fall extremer Gewalt, 17 Angriffen, vier Sachbeschädigungen und elf Bedrohungen wurden 343 Fälle antiziganistischer Diskriminierung und 245 Fälle verbaler antiziganistischer Stereotypisierung dokumentiert.

Darüber hinaus führt der MIA-Report auch die unterschiedlichen Lebensbereiche, in denen Sinti und Roma diskriminiert werden, auf. Etwa jeder vierte Vorfall lässt sich dem Alltagsbereich zuordnen. Auch im Wohnkontext (121 Fälle) und im Umgang mit Behörden (119 Fälle) wurden viele Vorfälle erfasst. Diese Zahlen zeigten, so Rose, dass Antiziganismus für Betroffene alltäglich ist: »Nicht nur auf der Straße, sondern auch bei der Wohnungssuche, in der Schule oder bei staatlichen Behörden findet er statt.«

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  • Für aus Deutschland nach Serbien abgeschobene Roma ist es schwer, in der fremden Heimat anzukommen

    • Annette Schneider-Solis, Belgrad

    Sie kamen nachts um halb drei. Das laute Hämmern an der Tür riss die Familie aus dem Schlaf. Den Eltern und den älteren Kindern war sofort klar, dass der Tag der Abschiebung gekommen war. Unter den Blicken der Polizisten blieb kaum Zeit, die wichtigsten Sachen zu verstauen.

Den Ramadanis hat sich dieser Tag im August 2020 tief ins Gedächtnis gebrannt. Auch Georg von Schmettau, der wie seine Frau und seine inzwischen erwachsenen Kinder über viele Jahre ein enges Verhältnis zu der aus dem Kosovo stammenden Roma-Familie aufgebaut hatte: »Als Erdita mitten in der Nacht anrief, wusste ich, was los ist.« Er musste zusehen, wie die Familie mit ihren drei Kindern in einen Bus gesetzt und zum Flughafen gebracht wurde. »Mir war klar, dass in Belgrad niemand auf sie wartet«, sagt der Erfurter.

1999 waren die Ramadanis von Albanern aus dem Kosovo vertrieben worden. »Wir hatten fünf Minuten, um die Sachen zu packen, dann mussten wir unser Haus verlassen«, erinnert sich Mutter Nazmije. Bis 2011 lebte die Familie mit den Kindern auf der Straße, in Häusern aus Kartons, kampierte unter Brücken, auf dem Feld – an unterschiedlichen Orten in Serbien und in Montenegro, erzählt Vater Arsim. Über Schweden und Norwegen kam die Familie dann 2013 nach Deutschland.

Acht gute Jahre in Erfurt

»Hier wurden wir gut empfangen, haben in Erfurt zwei große Zimmer im Heim bekommen«, berichtet Arsim Ramadani, und seine Augen leuchten bei der Erinnerung, ein Lächeln huscht über sein Gesicht. Doch das Asylersuchen wurde wie schon in Schweden abgelehnt, und auch die Härtefallkommission entschied gegen ein Aufenthaltsrecht. Trotzdem blieben die Ramadanis, hofften, dass sie trotzdem bleiben dürfen. Nach ihrer Abschiebung aus Deutschland verbrachte die Familie die ersten Nächte auf einem serbischen Bahnhof.

Ein Problem, das viele Rückkehrende haben, weiß Jelena Micovic. Sie koordiniert die Beratungsstelle der Caritas für Rückkehrende in der serbischen Hauptstadt. Täglich erlebt sie Diskriminierung der Roma in der Balkanrepublik. Erschwerend sei, dass es in Serbien nur zwei Hautfarben gebe: weiß und »Roma«. »Es ist fast aussichtslos, für sie eine bezahlbare Wohnung zu finden«, beklagt sie. »Sobald die Vermieter erfahren, dass die Anfrage von Roma kommt, heben sie den Mietpreis an.«

Zwei Drittel der Zurückgekehrten gaben bei einer Befragung durch die Beratungsstelle an, dass sie Probleme haben, eine Wohnung zu finden. Das größte Problem aber ist die Existenzsicherung: Neun von zehn Befragten schaffen es nicht ohne Hilfe. Nur 14 Prozent gaben an, dass sie sich ohne Unterstützung in die serbische Gesellschaft integrieren können. Einige Jahre zuvor hatte der Anteil noch bei über 50 Prozent gelegen. Die Corona-Pandemie schafft zusätzliche Hürden.

Jelena Micovic berichtet auch, dass immer mehr Menschen mit ernsthaften gesundheitlichen Problemen aus Deutschland zurückkehren. Darunter viele mit mentalen Problemen, was ihre Reintegration erschwert. Eine Weiterbehandlung scheitert oft an einer fehlenden Impfung. Um einen Termin beim Facharzt zu bekommen, muss ein negativer PCR-Test vorgelegt werden. »Die Kosten für einen Test übersteigen aber den Satz der monatlichen Sozialhilfe«, beklagt Micovic, die sich unermüdlich für Roma und andere Rückkehrende einsetzt.

Für die Familie Tatari hat sie einen Kofferraum voller getragener Kleidung und Lebensmittel eingepackt. Die Familie lebt in Debeljaca, einem Dorf in der Vojvodina. Für sie ist es schwer, den Ort zu verlassen. Die Eltern Ramadan und Vjoljz sind mit ihren neun Kindern zwischen anderthalb und 21 Jahren im November 2021 aus Suhl abgeschoben worden. In Debeljaca vor den Trümmern ihres Hauses – und ihrer Existenz. Sie hatten sich in Deutschland eine bessere Zukunft erhofft und Serbien verlassen, als es ihnen nicht mehr gelang, den Lebensunterhalt zu verdienen. Auch sie stammen ursprünglich aus dem Kosovo, wo Roma besonders unter Diskriminierung und Gewalt leiden.

Während ihrer Abwesenheit zerstörten Vandalen ihr Haus in Debeljaca. Es ist faktisch unbewohnbar: Das Dach kaputt, die Wände gerissen, innen alles verwüstet, zeigt uns Ramadan Tatari. Wer es war? Tatari zuckt mit den Schultern. Die Familie fand im gleichen Ort eine mit 50 Euro Miete vergleichsweise preiswerte Unterkunft. Als wir sie besuchen, sind die beiden älteren Söhne bei der Arbeit. Hin und wieder können sie mit Gelegenheitsjobs den Unterhalt der Familie verdienen. Ihre Schwestern sind noch zu Hause. Momentan bemüht sich die Familie mit Jelena Micovics Hilfe, dass die jüngeren Kinder wieder zur Schule gehen können.

Auch das ist ein großes Problem. Einerseits fehlt es vielen Rückkehrenden an Geld für Schulbücher. Wenn von den Schulen im Gastland keine Jahreszeugnisse, sondern nur Bescheinigungen mitgegeben werden, erschwert das den Übergang ins serbische Schulsystem zusätzlich. Am häufigsten geben die Roma an, dass die Kinder helfen müssen, den Lebensunterhalt für die Familie zu verdienen. Vielen bleibt der Zugang zu Sozial- und Schulsystem sowie zum Arbeitsmarkt versperrt, weil sie ohne Papiere aus Deutschland zurückkommen. Neue Papiere zu besorgen, ist ebenfalls eine große Hürde.

Hohe Hürden für die Reintegration

Die Tatari-Mädchen haben auf dem Boden Platz genommen, während uns die Eltern ihre Geschichte erzählen. »Wir dachten, in Deutschland ist ein besseres Leben«, sagt uns der Vater, der noch immer nicht verstehen kann, warum die Familie das Land ihrer Träume wieder verlassen musste: »Wir machen doch keine Probleme!«

Dies sei ein Satz, den man immer wieder höre, stöhnt Jelena Micovic. Er sage viel aus. Dieser Familie hofft die Sozialarbeiterin mit relativ wenigen Mitteln helfen zu können. Die älteste Tochter will Krankenschwester werden, die zweitälteste einen Schneiderkurs machen. Die Beratungsstelle will sie bei der Suche nach einem Ausbildungsplatz unterstützen. Für die Mutter und die jüngeren Schwestern stellt sich Jelena Micovic einen Kräutergarten vor. Die Kräuter könnten sie auf dem Markt in Pancevo verkaufen. »Für die 27 Kilometer dorthin bräuchten wir ein Auto, und dann müssten wir noch ein Gewächshaus bauen«, zählt sie auf. 2500 bis 3000 Euro sollten als Startkapital reichen. 700 Euro sind schon zusammen. »Hier wird es deutlich einfacher als bei der Familie Ramadani«, glaubt Micovic.

Die beiden Familien sind Fälle, wie sie der Beraterin täglich begegnen. Seit 2016 gibt es die Beratungsstelle in Belgrad, die auf eine Idee von Monika Schwenke von der Caritas in Sachsen-Anhalt zurückgeht. Sie leitet die Härtefallkommission in dem Bundesland und hat immer wieder mit Menschen zu tun, die in Deutschland kein Bleiberecht haben. »Ich habe das Thema Rückkehr jahrelang mit mir herumgetragen«, erzählt Monika Schwenke. »Wir waren immer ohnmächtig, wenn das Thema anstand und unsere Möglichkeiten ausgeschöpft waren.« Bei einer Reise nach Serbien kam sie mit der dortigen Caritas ins Gespräch, erzählte den Kolleginnen von ihrer Idee. Caritas International stellte Geld für ein Modellprojekt bereit, aus dem 2017 eine feste Einrichtung wurde. Inzwischen beteiligt sich auch das Land Niedersachsen an deren Finanzierung.

»Mit der Beratungsstelle versuchen wir, eine Brücke zu bauen für Menschen, die zurückgeführt werden«, sagt Monika Schwenke. Inzwischen haben 900 Menschen die Hilfe der Einrichtung in Belgrad in Anspruch genommen. Einige wurden abgeschoben, andere sind mehr oder weniger freiwillig zurückgekehrt. »Ich nenne es akzeptierte Rückkehr«, formuliert Monika Schwenke. »Dieser Begriff ist zutreffender als freiwillig.«

Anfangs sei es schwer gewesen, mit den Menschen Kontakt zu kommen, erinnert sich Jelena Micovic, die neben Sozialer Arbeit auch Deutsch und Englisch studiert hat und als Übersetzerin arbeitet. Es gab viel Skepsis, großes Misstrauen. »Inzwischen hat sich herumgesprochen, dass die Beratungsstelle sie unterstützt«, freut sie sich. »Viele kommen von allein zu uns, weil sie im Bekanntenkreis von uns gehört haben.«

Auch für die Ramadanis geht es in kleinen Schritten vorwärts. Die Wohnung, die sie nach den Nächten auf dem Bahnhof in Surcin zwischen Belgrad und dem Flughafen fanden, ist für dortige Verhältnisse völlig überteuert. 250 Euro zahlt die Familie für zwei Zimmer. 250 bis 300 Euro entsprechen in Serbien einem durchschnittlichen Monatslohn. Nur, dass niemand aus der Familie eine feste Arbeit hat. Einzig Vater Arsim verdient gelegentlich ein paar Dinar als Tagelöhner. »Als wir eingezogen sind, war kein Dach auf dem Haus, und wir haben zwölf Tonnen Müll herausgeholt«, erzählt Arsim Ramadani. Mit seinen Kindern baute er die Wohnung aus – unbezahlt.

Nach wie vor unterstützen die Schmettaus aus Erfurt die Familie finanziell, kümmern sich auch um Tochter Armina, die eine Ausbildung in einem Thüringer Altenpflegeheim macht. Für Arsim Ramadani haben die Schmettaus den Führerschein bezahlt. Stolz hält er uns das Dokument entgegen. »Der Führerschein wird ihm hoffentlich den Weg in den Arbeitsmarkt ebnen«, sagt Jelena Micovic. Mutter Nazmije, die in Erfurt als Freiwillige in einem Altersheim geholfen hat, braucht zunächst eine Therapie. Nach Gewalterfahrungen im Kosovo hält sie es kaum in größeren Menschengruppen aus.

Hilfe oft nur Tropfen auf den heißen Stein

Der Weg für die Ramadanis in die serbische Gesellschaft ist noch weit. Auch wegen der hohen Miete, mit der sie im Rückstand sind. Findet der Vermieter andere Interessenten, steht die Familie über kurz oder lang wieder vor der Tür. Das Geld, das Arsim Ramadani als Tagelöhner verdient, und das, was die Schmettaus und die drei älteren Kinder, die in Deutschland bleiben konnten, schicken, reicht kaum für Wohnung und Lebensunterhalt. Hinzu kommt die Sehnsucht nach den erwachsenen Kindern.

»Der Krieg hat es nicht vermocht, unsere Familie zu trennen. Aber Deutschland hat das geschafft«, beklagt Arsim Ramadani. Auch seine zweitälteste Tochter will wieder zurück nach Thüringen. Sie spricht Deutsch wie eine Muttersprache. Wenn sie mit ihrer großen Schwester in Erfurt telefoniert, sprechen die Mädchen Deutsch. Wenn sie ihre Wunschausbildung als Altenpflegerin machen kann, stehen ihre Chancen für eine Rückkehr nicht schlecht.

Jelena Micovic wird die Ramadanis weiter auf ihrem Weg begleiten. Sie konnte vielen Familien helfen, eine neue Existenz aufzubauen, weiß aber auch, dass ihre Arbeit oft nur ein Tropfen auf den heißen Stein und der Hilfebedarf weit größer ist. »Eigentlich müsste es solche Beratungsstellen in allen größeren Städten geben«, weiß auch Monika Schwenke. Immerhin soll nun in Nordmazedonien eine Einrichtung nach Belgrader Vorbild aufgebaut werden.

Das AsylblG als Versuchslabor: wie rechtspopulistische Politik praktisch wird

GGUA Gemeinnützige Gesellschaft zur Unterstützung Asylsuchender e. V.
Claudius Voigt; Büro für Qualifizierung der Flüchtlingsberatung
Tel. 02 51 / 1 44 86 – 26; Mobil 01 57 80 49 74 23; Fax 02 51 / 1 44 86 – 10
voigt@ggua.de
Münster, 11. April 2024

Das AsylbLG als Versuchslabor:
Wie rechtspopulistische Politik praktisch wird
Die Einführung einer Bezahlkarte im Asylbewerberleistungsgesetz für Geflüchtete wird momentan breit diskutiert. Eine europaweite Ausschreibung hat begonnen, die Ampelkoalition hat sich am letzten Wochenende auf eine Gesetzesänderung verständigt, in den Kommunen wird das Thema medienwirksam auf die
Tagesordnungen der Gremien gesetzt.

Die Bezahlkarte zeigt beispielhaft, wie es gelingen kann, eine rechtspopulistische
Idee zum Mainstream zu machen. In einer ganz großen Koalition beteiligen sich mittlerweile fast alle daran, wenn es darum geht, Soziale Rechte für Nicht-Deutsche – nicht nur im AsylbLG – einzuschränken und Diskriminierungen auszuweiten. Eine zentrale Rolle in diesem Prozess spielt ein Gutachten des Konstanzer Juristen Daniel Thym.
Das Asylbewerberleistungsgesetz und die Bezahlkarte dienen in erster Linie als symbolisch aufgeladenes Versuchslabor, in dem die Instrumente getestet werden
können. Doch längst geht es um mehr: Rechtsextremist*innen, Neoliberale, Konservative und Linksnationale üben den Schulterschluss, um die Ideologie
der Ungleichheit auch an anderen Stellen in die Praxis zu überführen; Sozialdemokrat*innen und Grüne haben dem wenig entgegen zu setzen, die Linke ist zu schwach. Dies betrifft alle möglichen Bereiche: vom Asylbewerberleistungsgesetz über das Bürger*innengeld bis zur (noch nicht mal verabschiedeten) Kindergrundsicherung – bei allem schwingt mehr oder minder offen ein rassistisches Narrativ mit. Die Rechtsextremist*innen sind schon in der Opposition überaus erfolgreich. Um es anders zu sagen: „AfD“ wirkt, die rohe Bürgerlichkeit feiert fröhliche Urständ‘.
Ein aktueller Antrag der Unionsfraktion im Bundestag für eine Verfassungsänderung macht deutlich, worum es im Kern geht: Das Gleichheitsversprechen des Grundgesetzes soll geschleift, das Grundrecht auf ein menschenwürdiges Existenzminimums entlang rassistischer und klassistischer Trennlinien relativiert, die  soziale Exklusion für bestimmte Bevölkerungsgruppen zur Normalität werden. Dabei setzt man offen darauf, dass das Bundesverfassungsgericht seine bisher recht progressive Rechtsprechung über den Haufen werfen und der Ungleichheitspolitik nicht mehr im Wege stehen werde.
Während wir noch über die Frage diskutieren, ob mit der Bezahlkarte 50 oder 70 Euro Bargeld abgehoben werden können und ob dies zwei Euro Gebühr kostet oder nicht, haben andere längst ihre Arbeit aufgenommen: Sie haben mit dem national-autoritären Umbau des Sozialstaats begonnen. Neben der militärischen Aufrüstung der Grenzen und der körperlichen Deportation aus dem Bundesgebiet soll die national-autoritäre Sozialpolitik zur dritten tragenden Säule der Migrationsverhinderung werden.
Die Bezahlkarte ist ein Beispiel dafür, wie eine rechtspopulistische Idee in den politischen Mainstream überführt werden kann – und fast alle das ganz toll finden.
Das Rezept:
 Als erstes stellt man Behauptungen in den Raum, die aus der Luft gegriffen oder erwiesen falsch sind („Überweisungen an Schlepper im Ausland“ (als würden diese auf Kredit arbeiten!) / „Sozialstaatsmagnet“ / „Pull-Faktoren“ / „Die lassen sich die Zähne machen und wir bekommen keinen Termin“ usw.). Damit lässt sich schon mal ordentlich Stimmung machen, die sich im besten Fall verselbstständigt.
 Man streut mehr oder weniger subtil die Parole „Jetzt kürzen wir aber endlich den Ausländern das Geld“.
 Man fügt noch einige ebenso wohlklingende wie nichtssagende Worthülsen hinzu („Verwaltungsvereinfachung“, „Digitalisierung“, „diskriminierungsfreies Design“). Damit kann man auch die differenzierter denkenden Bevölkerungsgruppen jenseits der Stammtische und rechtsradikalen Bubbles abholen.
Und schon hat man als Ergebnis: Fast alle wollen, dass eine Bezahlkarte eingeführt wird, die als einziges Ziel hat, eine bestimmte (nicht-deutsche!) Bevölkerungsgruppe zu diskriminieren, zu kontrollieren und zu gängeln. Die viel Geld kostet und die für die Behörden ganz viel zusätzlichen Aufwand bedeutet. Die also objektiv Unfug ist. Aber:
Ziel erreicht, die Operationalisierung der Ideologie der Ungleichheit ist ein Stück weiter gekommen.
Um sich den gesellschaftspolitischen Rollback und den Durchmarsch rechtsradikaler Positionen konkret vor Augen zu führen, sollte man sich die jüngere Historie der Leistungsformen im AsylbLG ansehen: Vor fast genau zehn Jahren, im September 2014 hat der damalige und heutige baden-württembergische Ministerpräsident Winfried Kretschmann einem Deal zugestimmt (dem so genannten „Kretschmann-Deal“). Gegen den Willen seiner Partei stimmte er im Bundesrat der Einstufung von Serbien, Bosnien-Herzegowina und Mazedonien als „sichere Herkunftsstaaten“ zu. Im Gegenzug handelte er unter anderem aus, dass im AsylbLG außerhalb von Aufnahmeeinrichtungen das diskriminierende Sachleistungsprinzip weitgehend gestrichen wurde. Stattdessen wurde der Vorrang von Geldleistungen im Gesetz verankert. Nach aktuellem Recht sind seitdem gem. § 3 Abs. 3 AsylbLG „vorrangig“ Geldleistungen zu erbringen.
Und nun: Ein Gesetzentwurf (Art. 15, ab S. 79) sieht nicht nur vor, die Bezahlkarte als eine mögliche Leistungsform einzuführen. Auch der Vorrang von Geldleistungen soll gestrichen und die seit Jahren scheintoten Sachleistungen wiederbelebt werden. Die Bezahlkarte soll sogar für Personen eingeführt werden, die Analogleistungen nach § 2 AsylbLG entsprechend dem SGB XII erhalten – die also schon viele Jahre verfestigt in Deutschland leben.
Die Streichung des Sachleistungsprinzips war eine wichtige sozialpolitische Errungenschaft, die nun wieder rückgängig gemacht werden soll. Die Gesetzesänderung soll am Freitag (12. April) als Anhängsel zum „Datenübermittlungsvorschriften-Anpassungsgesetz“ (das übrigens auch in seinen sonstigen Teilen einen Baustein für die autoritäre Formierung des Sozialstaats bildet; aber das wäre eine andere Geschichte) verabschiedet werden. Das Ergebnis wird dann sein: Sowohl Sachleistungen als auch Bezahlkarten sind (wieder) möglich. Und, nur nebenbei bemerkt, gibt es seit dem Kretschmann-Deal vor zehn Jahren fünf weitere „sichere Herkunftsstaaten“.
Die Bundesländer mit Ministerpräsident*innen jeder Couleur wollten aber nicht auf diese bundesgesetzliche Einführung der Bezahlkarte warten: Stattdessen haben 14 von 16 Ländern sich schon vor Wochen auf Vorgaben geeinigt und eine europaweite Ausschreibung gestartet. In der Ausschreibung gibt es unter anderem auch einen Anforderungskatalog, den die Bundesländer festgelegt haben, und in dem sie den Kartenbetreiber*innen genau die Diskriminierungsinstrumente vorschreiben, die mit der Karte umgesetzt werden sollen.
Unter anderem heißt es darin:
„Kein Einsatz im Ausland Keine Karte-zu-Karte-Überweisung Keine Überweisung ins In- und Ausland Bargeldabhebung nur im Inland über einen vorher definierten Betrag Möglichkeit bundesweiter oder bei Bedarf nur regionaler Nutzung durch Einschränkung der PLZ Möglichkeit des Ausschlusses bestimmter Händlergruppen/Branchen“
Völlig zu Unrecht werden diese Diskriminierungsvorgaben als „Mindeststandards“ bezeichnet. Das Gegenteil ist der Fall: Die Bundesländer und Kommunen werden weitgehend freie Hand haben, wie weit sie die Einschränkungen fassen werden. Die Gewährleistung des menschenwürdigen Existenzminimums wird somit in den politischen Wettbewerb gestellt. „Wir machen‘s für die Ausländer noch schlimmer als die anderen!“, wird in Zukunft ein erfolgversprechender Wahlkampfslogan lauten. Die CSU in Bayern macht es schon vor, Ministerpräsident Markus Söder poltert: „Unsere Bezahlkarte kommt schneller und ist härter“.
Für die Betroffenen wird das dann wohl heißen: Sie können kein Deutschlandticket erwerben, keine Mietüberweisungen tätigen, keine Handyverträge abschließen, keine Raten an Rechtsanwält*innen zahlen, nicht auf dem Flohmarkt oder im Internet einkaufen, keine Haftpflichtversicherung bekommen. In Hamburg und Bayern etwa, die bereits vorgeprescht sind, können nur 50 Euro monatlich für Erwachsene und 10 Euro für Kinder abgehoben werden. Zugleich kann keineswegs in allen Geschäften mit Karte gezahlt werden – zumal Buchungen mit Bezahlkarte wie bei einer Kreditkarte viel höhere Gebühren kostet als mit Girokarte.
Eine freie Disposition, wie und wo die geringen Sozialleistungen eingesetzt werden, ist somit nicht mehr möglich. Der Regelsatz wäre nicht mehr in nachvollziehbarer Höhe berechnet, da er auf Statistiken von Leistungsberechtigten beruht, die ihr Geld in freier Entscheidung einsetzen können. Aus diesem Grund ist die Bezahlkarte nicht nur politisch falsch, sondern auch verfassungsrechtlich hoch bedenklich. Der Deutsche Anwaltverein hat eine hervorragende Stellungnahme veröffentlicht, in der auf diese rechtlichen Fragen im Detail eingegangen wird.
Bayern versucht, dieses Problem zu umgehen, indem die Sozialbehörden so genannte „Whitelists“ erstellen sollen – es werden „vertrauenswürdige“ Empfänger*innen festgelegt, an die die Leistungsberechtigten ausnahmsweise doch Überweisungen vornehmen können. Abgesehen von der paternalistischen Gutsherrenart, nach der vermutlich diese Entscheidungen getroffen werden: Eine Entlastung der Verwaltung sieht anders aus.
Der aktuelle Gesetzentwurf der Bundesregierung sieht vor, dass die Sozialbehörde zusätzliche Geldleistungen auszahlen muss, wenn nicht alle Bedarfe mit der
Bezahlkarte gedeckt werden können – übrigens eine sozialrechtliche Selbstverständlichkeit. Jede Entscheidung darüber ist dann ein Verwaltungsakt, gegen den jeweils mit Widerspruch, Klage und eventuell Eilantrag beim Sozialgericht vorgegangen werden kann. Auch dies führt zu mehr Verwaltungsaufwand statt zu weniger, wie immer versprochen wurde.
Aber darum geht es in Wahrheit auch gar nicht. Denn fast alle Betroffenen in den Kommunen verfügen über ein Konto. Dennoch sollen die Sozialleistungen nicht mehr aufs Konto überwiesen werden, sondern auf das Parallelsystem der Bezahlkarte. Ein immenser zusätzlicher Aufwand für die Sozialbehörden und erhebliche zusätzliche Kosten werden gern in Kauf genommen, um Diskriminierung und Kontrolle umsetzen zu können. Das Institut für Finanzdienstleistungen e.V. bezeichnet die Bezahlkarte daher völlig zu Recht als „ein Lehrstück, wie man finanzielle Inklusion verhindert und rechtspopulistische Narrative bedient“.
Das falsche Versprechen der „Verwaltungsvereinfachung“ diente nur als der Köder, mit dem Unterstützer*innen für die Bezahlkarte geangelt werden sollten. Ebenso wie die haltlosen Behauptungen à la „Überweisungen ins Ausland / an Schlepper“ oder „Pull-Faktoren“. „Gerade bei sensiblen Eingriffen in die Existenzsicherung sollten sich Bund und Länder in ihren Entscheidungen auf fachliche Evidenz statt auf Anekdoten und Annahmen stützen, die nicht plausibel sind“, urteilt denn auch der Chef des Forschungsinstituts der Bundesagentur für Arbeit, Herbert Brücker, in einem Gutachten für das DeZIM.
Apropos Anekdoten: Zu den Erfinder*innen der Bezahlkarte gehört die so genannte „AfD“ als die Expertin für Faktenfreiheit schlechthin. In einem baden-württembergischen Gesetzentwurf aus Juli 2022 forderten die Rechtsradikalen schon lange vor Beginn der Diskussion um eine bundesweite Bezahlkarte: „Der notwendige Bedarf an Ernährung, Kleidung, Gesundheitspflege und Gebrauchs- und Verbrauchsgütern des Haushalts wird regelhaft als Geldleistung in Form von Beträgen auf einer Chipkarte ausschließlich mit Bezahlfunktion erbracht (…).“ Und auf Bundeseben haben die Rechtsradikalen im Oktober 2022 in einem Antrag gefordert, es solle auch im SGB II „eine ,Sachleistungs-Debitkarte‘ für volljährige erwerbsfähige Grundsicherungsempfänger eingeführt werden, mit der als Alternative zu der Gewährung von Barmitteln die Leistungsgewährung in bestimmten Fällen – wie etwa der Verweigerung der „Bürgerarbeit“ – unbar über die Debitkarte erfolgt“. Auch die vulgär-neoliberale „Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft“ positioniert sich entsprechend: „Außerdem sollten arbeitsfähige Empfänger dieser Sozialleistung (gemeint ist das Bürger*innengeld) diese nur über Prepaid-Guthabenkarten ausgezahlt bekommen.“
Man muss also keine Prophetin sein um vorherzusagen: Interessierte Kreise von halb rechts bis ganz rechts werden dafür sorgen, dass die Bezahlkarte ihre Grenzen
nicht im AsylbLG finden wird. Sie wird früher oder später als autoritäres Projekt auch auf das SGB II und möglicherweise auf die Kindergrundsicherung übertragen werden, um dem Arbeitszwang Nachdruck zu verleihen, Sozialleistungsbeziehende zu gängeln, zu kontrollieren und zu sanktionieren – und die weitgehend frei erfundenen „Pull-Faktoren“ von Sozialleistungen zu minimieren.
Aber die Bezahlkarte ist nur der erste, symbolisch aufgeladene Schritt: Einen recht detaillierten Fahrplan für einen noch weiter gehenden national-autoritären Umbau des Sozialstaats für Nicht-Deutsche stellt ein knapp 60-seitiges Gutachten aus September 2023 auf, das die CDU/CSU-Bundestagsfraktion beim Konstanzer Rechtsprofessor Daniel Thym in Auftrag gegeben hatte: Darin setzt sich Thym mit „rechtlichen Spielräumen zur Einschränkung von Asylbewerberleistungen und sonstiger Sozialleistungen für Personen mit Fluchthintergrund sowie die Ausweitung des Sachleistungsprinzips“ auseinander. Das Gutachten gibt konkrete Handlungsempfehlungen, an welchen Stellen Sozialleistungen unter anderem für Asylsuchende und Geduldete gekürzt oder am besten ganz gestrichen werden können. Seine zentralen Anregungen an die Politik sind die folgenden:
 Die nicht existenzsichernden Grundleistungen nach § 3 AsylbLG sollen von 18 Monaten „moderat“ auf 24 oder 30 Monate verlängert werden. Dies ist zum 27. Februar 2024 von der Gesetzgeberin schon umgesetzt worden – gleich noch restriktiver als Thym es vorgeschlagen hatte: 36 Monate dauert seitdem der niedrigere Grundleistungsbezug, was verfassungsrechtlich kaum haltbar sein dürfte.
 Die Sanktionen nach § 1a AsylbLG, die bereits jetzt in vielen Fällen noch nicht einmal das physische Existenzminimum decken, sollen ausgeweitet werden, um ihnen zu „einer größeren Durchschlagskraft“ (Zitat!) zu verhelfen. Thym will diese vor allem auf Geduldete übertragen, die ihrer „Ausreisepflicht nicht nachkommen“. Da er weiß, dass das Bundesverfassungsgericht nur Sanktionen zulassen würde, die durch das eigene Verhalten jederzeit abwendbar wären, deutet er diese Leistungskürzung ebenso geschickt wie unzutreffend in eine „verhaltensbasierte“ Sanktion um – was sie nicht ist. Vielmehr ist es eine rein repressive Leistungskürzung, die die bloße Anwesenheit im Bundesgebiet mit dem Entzug des gesamten sozialen Existenzminimums bestraft, ohne eine Möglichkeit zu haben, wieder in den Genuss ungekürzter Leistungen zu kommen. Thym hingegen biegt die Ausreise gedanklich zu einer Art „Selbsthilfeobliegenheit“ zurecht, auch wenn sie dazu führt, dass nach der Ausreise der Anspruch auf Leistungen erst Recht untergegangen wäre.
 Darüber hinaus schlägt er für Fälle von „Sekundärmigration“ vor, das physische und soziale Existenzminimum komplett zu streichen, wenn Personen Internationalen Schutz in einem anderen EU-Staat genießen –
selbst wenn in Deutschland eine Duldung erteilt wurde, weil eine Abschiebung unmöglich ist.
 Auch für Geduldete aus „leicht erreichbaren Drittstaaten“ schlägt er einen vollständigen Leistungsentzug vor – betroffen davon wären einmal mehr Angehörige der Rom*nja aus den Westbalkanstaaten. Thym nutzt als Blaupause für diesen Vorschlag den bereits bestehenden Leistungsausschluss bestimmter EU-Bürger*innen. Die Kolleg*innen in den Beratungsstellen für EU-Bürger*innen kennen nur zu gut die Folgen dieser vollständigen sozialen und wirtschaftlichen Exklusion: Verelendung, Straßenobdachlosigkeit, Schutzlosigkeit, fehlende medizinische Versorgung, staatlich verursachte Kindeswohlgefährdung, moderne Sklavenarbeit.
 Für Dublin-Fälle sollen ebenfalls sämtliche Leistungen gestrichen werden. Hierfür hat die EU mit Zustimmung der Bundesregierung bereits die Grundlagen geschaffen: Die künftige „Asyl- und Migrationsmanagement-Verordnung“ als Teil des berüchtigten GEAS sieht in ihrem Art. 10 vor, dass im unzuständigen Dublin-Staat kein Anspruch auf Sozialleistungen mehr besteht. Der sozialrechtliche „Squeeze-out“ (ein treffender Begriff der jetzigen Bundesverfassungsrichterin Astrid Wallrabenstein, den sie 2016 auf die Leistungsausschlüsse von Unionsbürger*innen bezog) wird gleichsam unionsrechtlich flankiert. Die Verordnung soll im Jahr 2026 in Kraft treten.
Das Thym-Gutachten bleibt nicht innerhalb der Grenzen des AsylbLG: Das Bürger*innengeld und die Kindergrundsicherung könnten zwar nicht pauschal für nicht-deutsche Staatsangehörige gekürzt werden. Aber: „Freilich könnten indirekt erweiterte Handlungsmöglichkeiten geschaffen werden, indem man die Ausgestaltung des Bürgergeldes umstellt. Solche Änderungen erfassten alle Personen unabhängig von der Staatsangehörigkeit und würden Deutschland an diejenigen europäischen Länder annähern, wo viele Leistungen nicht pauschal an alle gezahlt werden, sondern an bestimmte Indikatoren anknüpfen. Eine Reform könnte die Berechnungsmethode, nicht nur hinsichtlich der Inflation, weniger großzügig ausgestalten.“ Im Klartext: Niedrigere Regelbedarfe, höherer Erwerbszwang, schärfere Mitwirkungspflichten, „in spezifischen Sektoren“ Umstellung auf Sachleistungen.
Würde das Bundesverfassungsgericht all die angedachten Einschränkungen oder Streichungen des Existenzminimums für bestimmte Bevölkerungsgruppen mitmachen? Hat es nicht immer wieder betont, dass die Menschenwürde migrationspolitisch nicht zu relativieren, das menschenwürdige Existenzminimum „stets“ und unabhängig von Staatsangehörigkeit oder Aufenthaltsstatus zu sichern ist?
Thym zeigt sich zuversichtlich: „Gesellschaft, Politik und Wissenschaft nehmen keinen Anstoß, wenn Nichtregierungsorganisationen und andere Akteure eine
dynamische Rechtsprechung einfordern, gerade auch im Migrationsrecht. Ebenso legitim muss es sein, judikativen Überdehnungen entgegenzutreten. Hierbei ist freilich darauf zu achten, dass, anders als im aktuellen US-Diskurs, die Institution des Verfassungsgerichts nicht generell beschädigt wird. Hierzu muss auch das Gericht durch seine Urteilspraxis beitragen.“
Er setzt also darauf, dass das Bundesverfassungsgericht aufgrund der rechten Hegemonie im gesellschaftlichen Diskurs seine eher progressive Rechtsprechung ( „judikative Überdehnungen“) schon von selbst über Bord werfen werde. Um dem Nachdruck zu verleihen, stellt er wissenschaftlich-neutral in den Raum: „Öffentliche Forderungen nach Rechtsprechungswandel können sich auch auf ,weniger‘ Grundrechtsschutz richten.“
Sicherheitshalber will das Gutachten das autoritäre Projekt jedoch parallel mit einer Verfassungsänderung flankieren. Dadurch könnten nicht nur im SGB II, sondern auch in der Kindergrundsicherung effektivere Ungleichbehandlungen verwirklicht werden. Thym schlägt vor, den Art. 20 GG (das Sozialstaatsgebot, das eine der Grundlagen für die bisherige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum menschenwürdigen Existenzminimums darstellt) zu ergänzen:
„Für Personen ohne deutsche Staatsangehörigkeit sind bei der Bestimmung des Existenzminimums und der Anwendung des Gleichheitssatzes die Dauer des bisherigen Aufenthalts, dessen Rechtmäßigkeit und das Leistungsniveau in anderen EU-Mitgliedstaaten zu berücksichtigen (…). Soweit ein anderer EU-Mitgliedstaat für die Existenzsicherung zuständig ist, können Leistungen nicht zusätzlich im Bundesgebiet beansprucht werden.“
Die Gewährleistung des Existenzminimums (und in diesem Zusammenhang auch der Gleichheitsgrundsatz) soll für Menschen ohne deutsche Staatsangehörigkeit also nur noch eingeschränkt gelten. Die Menschenwürde in ihrer praktischen Ausformung wäre dann auch verfassungsrechtlich nicht mehr unantastbar; für Nicht-Deutsche gälte sozialrechtlich eine Art Menschenwürde light. Wie explosiv das Fass ist, das da geöffnet werden soll, mag man sich kaum ausmalen. Hier würde tatsächlich die Axt an den Kern des Grundgesetzes gelegt.
Die CDU/CSU hindert das indes nicht, den Vorschlag für diese Verfassungsänderung wörtlich zu übernehmen und in einem Bundestagsantrag „Leistungen für Asylbewerber senken – Rechtliche Spielräume nutzen“ einzubringen. Hier wird es zentrale Aufgabe der Progressiven sein, die Verfassung, im besten Sinne konservativ, gegen die Konservativen zu verteidigen!
Mit der vorgeschlagenen Verfassungsänderung wäre man übrigens nicht mehr sehr weit weg von den Vorschlägen der Rechtsextremist*innen im Bundestag. Die „AfD“
will nicht-deutschen Staatsangehörigen den Zugang zum Bürger*innengeld in vielen Fällen gleich ganz streichen: „Sozialstaat sichern – Bürgergeld für EU-Bürger und Drittstaatsangehörige begrenzen“, lautet der Titel eines Bundestagsantrags.
„Der Anteil der Ausländer am Bürgergeld ist im Vergleich zum Bevölkerungsanteil überproportional hoch und nimmt zu; inzwischen beziehen mehr Migranten als Deutsche Bürgergeld. Eine zeitlich unbegrenzte Gewährung von Grundsicherungsleistungen an Ausländer ist künftig schon aus fiskalischen Gründen nicht mehr realisierbar. Der grundsätzliche Nachrang deutscher Sozialleistungen gegenüber Hilfe- und Selbsthilfemöglichkeiten – die ggf. auch im Ausland realisiert werden können – ist zu berücksichtigen“, „begründen“ die parlamentarischen Rassist*innen ihr Vorhaben.
Schon klar: Das ist vor allem die übliche rechtsextremistische Propaganda und keineswegs identisch mit den Unionsvorschlägen. Und doch: Die Ähnlichkeiten in der Argumentation fallen ins Auge (Ausreise als Selbsthilfeobliegenheit, Nachrang der deutschen Sozialleistungen usw.). Der Sozialstaat soll unter Nationalvorbehalt gestellt werden. Wie konkret das alles ist, konnte man am 8. April bei einer Anhörung des Bundestags-Sozialausschusses miterleben. Dort haben die Abgeordneten von CDU/CSU und FDP die geladenen Sachverständigen – unter ihnen der ausführlich zitierte Daniel Thym und der Bonner Juraprofessor Gregor Thüsing – interessiert nach den rechtlichen Möglichkeiten von Sozialleistungskürzungen oder -einschränkungen für Geflüchtete gefragt. Die Antwort der beiden Juristen war im Kern: Juristisch ist ganz vieles denkbar, es müsse nur politisch gewollt sein.
Und da haben sie Recht! Wir müssen den national-autoritären Angriff auf den Sozialstaat politisch beantworten und dürfen uns nicht darauf verlassen, dass die Gerichte das Schlimmste schon verhindern würden. Denn es geht um die zutiefst politische Frage: In welcher Gesellschaft wollen wir leben?
In einer Gesellschaft, in der die Sicherung der sozialen Teilhabe oder gar des physischen Überlebens vom richtigen Aufenthaltsstatus und der richtigen Staatsangehörigkeit abhängig gemacht werden? In der sich der Sozialstaat seiner Verantwortung für einige vollständig entzieht und sie auf Suppenküchen, Almosen, Pfandflaschen, Mülltonnen, ehrenamtliche Unterstützer*innen, solidarische Hilfsstrukturen verweist? In der „informelle Camps und Zeltstädte von Geflüchteten wie etwa in Calais, Rom, Paris, Athen und entlang der Balkan-Route“ zum Ziel des politischen Handelns zu werden drohen (wie es die Diakonie Deutschland in einer lesenswerten Stellungnahme befürchtet)? In der Menschen aus Angst vor einer Denunziation an die Ausländerbehörde nicht zur Ärzt*in gehen und sich nicht trauen, einen Sozialhilfeantrag zu stellen? In der manche nicht wissen, wovon sie morgen das Essen für sich und ihre Kinder bezahlen sollen? In der die Beschneidung Sozialer Rechte für nicht-deutsche Staatsangehörige nur das Versuchslabor ist, um
diese später um so effizienter bei anderen einsetzen zu können? In der ein Teil der Bevölkerung langfristig in Lagern leben muss, die keine Orte zum Leben sind? In der Sozialstaat, Flucht und Migration systematisch gegeneinander ausgespielt und Grund- und Freiheitsrechte weiter eingeschränkt werden?
Eben!